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Patentiere

Figaro – einem „Tierversuchsprogramm“ entgangen

Früher war er in einem "Tierversuchsprogramm" zur Reduktion des Antibiotikaeinsatzes in der Kälbermast. Heute lebt Figaro zusammen mit weiteren über hundert Tieren im bernischen Romont auf dem Lebenshof "Tante Martha". Roger Furrer von tier-im-fokus.ch (TIF) hat Figaro dort besucht.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Unter der Kälbermast gelitten

Geplant ist eine Feldstudie mit Kälbern im Rahmen eines Projektes, das von IP-Suisse und Migros unterstützt wird und eine Reduktion des Antibiotikaeinsatzes in der Kälbermast zum Ziel hat. [1] Es soll eine Alternative zu einem in der Schweiz weit verbreiteten Antibiotikum (einem Kombinationspräparat) getestet werden, das Kälbern in der Kälbermast aus gesundheitlichen Gründen heutzutage präventiv verabreicht wird, aber in der Kritik steht, dass dessen breiter Einsatz Antibiotikaresistenzen bei den Tieren fördert und nach dem Fleischkonsum auch beim Menschen bewirken kann. Zudem können Antibiotika zur Schädigung der natürlichen Darm- und Pansenflora der Kälber führen. [2]

32 Kälber aus verschiedensten Betrieben, die wie üblich in der Milchviehhaltung kurz nach der Geburt von der Mutter getrennt werden, werden im Alter von 3 bis 8 Wochen für diese Studie auf den Mastbetrieb transportiert. Darunter ist auch das Kalb mit der Ohrenmarke 93051, das später den Namen „Figaro“ bekommt. Dieses ist aber zu Beginn weg das schwächste Mitglied in der Kälbertruppe. Tatsächlich zeigt es am Tränkeautomaten wenig Trinklust, holt sich bald einmal eine Lungenentzündung und muss deswegen im Tierspital Bern behandelt werden. [3]

Nach der Genesung von der Lungenentzündung und nachdem Figaro am Tierspital ohne Probleme Milch getrunken hatte, muss er wieder zurück auf den Mastbetrieb, wo es darum geht, die Kälber auf das nötige Schlachtgewicht zu mästen und dabei verschiedene gesundheitliche Aspekte zu beobachten.

Eine Übergangslösung gesucht

Die behandelnde Tierärztin von Figaro hat Mitleid mit ihm und will ihm den Stress in der Mastgruppe und die Zukunftslosigkeit ersparen. Sie gelangt an tier-im-fokus.ch (TIF) und gemeinsam finden wir eine Übergangslösung auf dem Lebenshof „Tante Martha“ (vormals El Rebel) in Romont/BE – Übergangslösung deswegen, weil der Hof bis anhin keine Rinder hatte und auch nicht entsprechend eingerichtet war.

So wird Figaro am 19. Mai 2014 aus dem „Tierversuchsstall“ genommen und zum Lebenshof im Berner Jura transportiert. Dort angekommen will Irina, die zusammen mit ihrem Mann Darko den Hof führt, Figaro einen „Schoppen“ geben. Dieser weigert sich aber zu trinken.

Kälber, die bei der Mutter saugen, müssen den Hals nach oben strecken, um an die Zitzen des Euters zu gelangen. So schliesst sich die Schleimhaut beim Magenvorhof zur sogenannten „Schlundrinne“, damit die Milch an den drei Vormägen (Pansen-, Netz- und Blättermagen) vorbei in den dafür vorgesehenen Labmagen gelangt. Dasselbe passiert auch dann, wenn man den „Schoppen“ richtig von oben her gibt. In vielen Betrieben müssen Kälber aber die Milch aus Kübeln ohne „Nuggi“ oder an Tränken, die nicht die entsprechende Körperhaltung beim Trinken erlauben, von unten her aufnehmen. Auf diese Weise funktioniert die Bildung der „Schlundrinne“ nicht oder nur unvollständig, weshalb die Milch in den Pansen gelangen kann. Da die Pansenflora die Milch nicht verarbeiten kann, vergärt sie dort und führt zu einer Pansenübersäuerung (= „Pansentrinker“ [4]).

Laut Tierärztin litt Figaro aber nicht am „Pansentrinker-Syndrom“. Vielmehr hatte seine Trinkunlust auch mit dem ganzen Stress wie der Trennung von seiner Mutter, dem Transport und Zusammenführung in eine ihm unbekannte Gruppe und vermutlich mit einem Selenmangel zu tun. Mit viel Zutrauen, Streicheleinheiten und mehrmaligen Versuchen gelingt es Irina, dass Figaro nach ungefähr 24 Stunden endlich Milch trinkt. Danach ist es kein Problem mehr, wenn Figaro die Flasche kriegt. Er nimmt nach und nach an Gewicht zu.

figaro_und_anton
Figaro und Anton | Foto © tier-im-fokus.ch (tif)

Bevor Figaro auf den Lebenshof in Romont kam, traf bereits Anton ein, ebenfalls ein Kalb, das wegen Lungenentzündung im Tierspital behandelt wurde. Er litt zeitweise unter dem „Pansentrinker-Syndrom“, was sich auch am geblähten Bauch (Tympanie), Apathie, Trinkunlust und dem regelmässigen Durchfall (sogenannter „Kittkot“) zeigte. [5] Daher war Anton für die Milchmast nicht mehr geeignet und sollte frühzeitig geschlachtet oder in die Stiermast überwiesen werden. Infolge der intensiven Therapie im Tierspital konnte Anton genesen. Dieselbe Tierärztin, die Figaro behandelt hatte, hoffte auf ein anderes Schicksal für Anton und fand eine Übergangslösung bei Irina auf dem Lebenshof „Tante Martha“. Nach einem Monat auf dem jurassischen Lebenshof erholte sich Anton gänzlich von seiner Lungenentzündung.

Die intensive Betreuung und Zuwendung zu den beiden Kälbern Figaro und Anton sowie die nicht befriedigenden Anschlusslösungen (die leider auch vom „Gestürm“ gewisser Tierschutzleute begleitet war) führten dazu, dass Irina und Darko sich entschlossen, die beiden Kälber definitiv bei sich aufzunehmen. Zudem zeigte sich auch, dass die Kälber ohne Probleme mit all den anderen Tieren zusammen leben konnten und die Strukturen wie Stall und Gelände doch nicht ungeeignet für Rinder waren.

Ein Leben ohne Tierversuche und ohne Schlachthöfe

Nun leben also Figaro und Anton zusammen mit Schafen, Ziegen, Pferden, Alpakas, Hirschen, Hühnern, Enten, einem Truthahn, Tauben, Hasen, Meerschweinchen sowie Hunden und Katzen auf dem Lebenshof. Diesen Zufluchtsort für Tiere hat die Familie Hauswirth – Irina und Darko mit ihren beiden Töchtern – aus einer ehemaligen Hirschfarm übernommen und mit viel Arbeit und Herzblut zu dem gemacht, was es heute ist: ein kleines Paradies, das den Tieren ein behütetes Zuhause bietet.

Figaro ist sehr anhänglich, liebt es, wenn er gestreichelt wird, zeigt Irina mit dem Kopf an die Stelle, die er selber nicht erreicht, aber dort gerne gestreichelt wird. Es ist auch schwierig, Fotos von ihm zu machen, weil er sofort auf einen zukommt, um die Nähe zu spüren. Anton hingegen ist noch skeptisch und meidet unbekannte Leute, bis er deren Zutrauen hat.

Wenn Irina über das Gelände geht, um hier etwas zu misten oder dort etwas zu holen, wird sie von Figaro und Anton auf Schritt und Tritt begleitet. Wären die beiden nicht so gross und massig, könnte man glatt meinen, es seien Hunde – treue Begleiter des Menschen.

Figaro hatte eine schwierige Kälberkindheit. Die neue Situation ist das pure Gegenteil. Nun lebt er an einem Ort ohne Stress. Er kann selber bestimmen, ob er neben den Schafen, Ziegen, Hühnern und Alpakas im Offenstall liegen oder alleine oder mit Anton nach draussen auf die Weide gehen will. Mittlerweile wirkt Figaro gesund und kräftig.

Das Beispiel von Figaro und Anton zeigt, dass es sogar ganz ohne Antibiotika ginge, wenn man die Tiere nicht als Ware betrachten würde, sondern sie ihr Leben leben lässt.

Fussnoten

[1] Die Studie auf den zwei Praxisbetrieben fand im Rahmen eines normalen Mastdurchgangs statt, d.h. die Kälber kamen auf diese Betriebe, weil sie gemästet werden sollten.

[2] Vgl. „Pansen“, Kap. 6 „Erkrankungen“, Weblink: Wikipedia. Die erwähnte Feldstudie untersuchte die allgemeine Gesundheit der Kälber.

[3] In der Kälbermast ist u.a. Lungenentzündung eine häufige Erkrankung, weil die Kälber zu früh von der Mutter getrennt werden, wobei ihnen dadurch wichtige Abwehrstoffe aus der Muttermilch fehlen, und weil die Trennung, der Transport und die Zusammenführung aus x-verschiedenen Betrieben für die Kälber Stress bedeutet.

[4] Gründe für das „Pansentrinken“ können neben der erwähnten falschen Haltung beim Trinken auch die Trinkmenge (= Gefahr des Überlaufens der Milch vom Lab- in den Pansenmagen), die Milchtemperatur sowie Stress (= Einfluss auf die Ausbildung der Schlundrinne) sein. Betroffene Kälber werden lustlos und haben keinen Appetit – zudem führt dies zu typischen Kälberkrankheiten wie Durchfall, Lungen-, Ohren- oder Nabelentzündungen. Vgl. „Das Tränken prüfen, wenn Kälber kümmern“, Weblink: Swissgenetics und „Pansentrinker“, Weblink: bestandesmedizin.info.

[5] Dies sind für „Pansentrinker“ typische Symptome, vgl. „Pansenazidose“, Kap. „Pansentrinker-Syndrom“, Weblink: rinderskript.net.

Unser Verein tier-im-fokus.ch (TIF) unterstützte Figaro von 2014 bis 2017.

Helfen auch Sie, dass unsere Patentiere ein möglichst selbstbestimmtes Dasein fernab menschlicher Nutzungsansprüche leben können oder werden Sie Mitglied in unserem Verein.

Am Samstag, 6. Juni 2015 fand der Tag der offenen Türe beim Lebenshof „Tante Martha“ in Romont/BE statt. tier-im-fokus.ch (TIF) half bei der Organisation dieses Events mit. Ein Bericht mit Fotogalerie hier.

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