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Mensch & Tier

Weltvegantag: Sprache und Macht

Wer vegan lebt, wird mitunter als extrem, radikal oder gar militant betitelt. Was stecken hinter diesen Vorurteilen? Tobias Rein hat sich die Mechanismen dahinter genauer angeschaut.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Der Veganismus hat ein Problem: seine Endung. Sie brandmarkt ihn als blosse Theorie, als Gedankenkonstrukt ohne Realitätsbezug und Daseinsberechtigung. Der Veganismus wird in Gesprächen zudem gerne als extremistisch, radikal oder militant betitelt und damit in den Bereich des Anormalen verbannt. Zeit, sich die Mechanismen genauer anzuschauen, die zu dieser Diffamierung führen, und über die Macht der Sprache nachzudenken.

Veganismus – Radikal und Militant?

Rein etymologisch [1] bedeutet «radikal» lediglich «an die Wurzel gehend» und beschreibt eine Einstellung, die soziale und politische Probleme grundlegend angehen möchte. Darüber hinaus wird der Begriff aber auch verwendet, um bestimmte Positionen zu kennzeichnen, die eine freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen oder generell Auffassungen, die von der «Mitte» abweichen und die auch den Einsatz von Gewalt nicht ausschliessen. Aus ähnlichem Kontext ist «militant» bekannt, das den kriegerischen Kampf für eine Überzeugung beschreibt. Daraus folgt, dass die vegane Ernährungs- und Lebensweise weder radikal – in negativer Konnotation – noch militant ist, da Rücksichtslosigkeit und kriegerischer Kampf der Vermeidung von Leid strikt widersprechen. Denn auch wenn dem Veganismus oft aufgrund der Formel «keine tierlichen Produkte» eine Nulltoleranz vorgeworfen wird, so lässt sich der gelebte Veganismus mit dem Leitsatz «möglichst wenig Leid» gleichsetzen. Wer danach lebt, weist unverschuldet kritisch und konfrontierend auf die gesellschaftliche Norm hin.
«Die effektivste Art, einen Anspruch zurückzuweisen, ist nicht, gegen ihn zu argumentieren, sondern ihn in den Bereich des Anormalen zu verweisen. Radikalere Ansprüche stehen immer in Gefahr, als verrückt angesehen zu werden, weil sie nicht in die vorhandene soziale Realität passen, sondern sich auf etwas anderes […] beziehen.» – Luc Boltanski, französischer Soziologe

Bedingungen konstruktiven Diskutierens

Idealerweise sprechen in einer Diskussion vernünftige Individuen miteinander, die Argumente verwenden und den Argumenten der anderen Seite gegenüber offen sind. In einer Diskussion wird aber aus einer bestimmten Position heraus gesprochen: Es sprechen Frauen, Männer, Kinder, Erwachsene, Arbeiter, Unternehmerinnen, Akademiker, Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund, Menschen mit oder ohne Behinderung und so weiter. Die jeweilige Position prägt nicht nur den eigenen Standpunkt, sondern auch, wie man wahrgenommen wird und wie gegebenenfalls Argumente aufgefasst werden. So kommt es nicht selten vor, dass die vegane Position zwar durch Argumente und Fakten vertreten wird und Einwände argumentativ gekontert werden, die Diskussion aber trotzdem unmöglich gemacht wird, indem die vegane Sichtweise als Position einer sogenannten militanten Minderheit abgetan wird. Diese Strategie verunmöglicht eine inhaltliche Debatte und macht den Bezug zur (unterstellten) Normalität zum alleinigen Gegenstand der Erörterung. Die Schublade wird aufgemacht, der Veganismus als ideologisch oder extremistisch abgestempelt und weggeschlossen. Aus evolutionärer Sicht ist es verständlich, Abweichungen von der Norm mit Vorsicht zu begegnen: Frühere Gemeinschaften waren auf den Zusammenhalt der Gruppe angewiesen, jede Abweichung bedeutete Gefahr. In dieser Hinsicht sind wir immer noch Herdentiere, die den sozialen Zusammenhalt der Gruppe sehr hoch schätzen. Zu diesem sozialen Zusammenhalt gehört aber auch der Respekt, Argumente anzuerkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. In einer Gesellschaft, die den Individualismus hochhält, irritiert der Fakt, dass beim Thema Fleisch und tierliche Produkte die jahrtausendelange Tradition, die evolutionäre Gemeinschaft und die Ernährungs- und Lebensweise unserer Vorfahren bemüht werden. Dabei handelt es sich zugegebenermassen nicht zwangsläufig um einen Widerspruch: Individuum kann nur werden, wer sich als Teil einer Gemeinschaft versteht und gleichwohl die Regeln und Praktiken dieser Gemeinschaft hinterfragt. Das allerdings bedeutet, andere Auffassungen ernst zu nehmen, auch wenn sie nicht der gängigen Praxis entsprechen. Ob Pflanzen Gefühle haben, warum Fleischprodukte imitiert werden, dass der Löwe als ethisches Vorbild fungiert, weil er Antilopen isst, und dass der Mensch ein Allesesser ist, sind nur eine Auswahl der für die Frage der Ethik hinlänglich widerlegten Argumente. Lediglich ein einziges Argument für die Nutzung tierlicher Produkte ist wirklich stichhaltig: Sie schmecken gut oder sie sind schön anzusehen. Demgegenüber stehen das Leiden der Tiere, die Vertreibung von Menschen für die Produktion von Futtermitteln, die Zerstörung lokaler Märkte, menschenverachtende Bedingungen in den Schlachthäusern und die Verstärkung des Klimawandels. Wer im Angesicht dessen über die Inhalte des Veganismus nicht sprechen möchte, lehnt es zugleich ab, über fundamentale Aspekte des Leidens von Menschen und Tieren und der Erhaltung der Umwelt zu sprechen.

Die Abweichung von der Norm

Ein weiteres Beispiel der sprachlichen Ausgrenzung ist der Vorwurf, Vegane würden missionieren. Der Begriff des Missionierens ist religiös geprägt, und dem Veganismus fehlen wesentliche religiöse Elemente wie Gott, Messias, heilige Schrift und Regelkodex. Wenn auch der Verweis auf den religiösen Aspekt als Argument nicht standhält, so bringt er etwas anderes zum Vorschein: Wenn es um Normalität und die Ablehnung von Extremen geht, ist meistens auch die Rede vom goldenen Mittelweg. [2] Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Normalität und der Mittelweg davon abhängen, wie die Extreme definiert werden. Weil der Konsum tierlicher Produkte (oder zumindest der Konsum von Fleisch) der gesellschaftlichen Norm entspricht, wird die vegane Lebensweise als grosse Abweichung wahrgenommen. Nichtsdestotrotz lehnt die überwiegende Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung unnötige Gewalt ab. Und ebendiese gesellschaftlich grossflächig ignorierte kognitive Dissonanz – Ablehnung unnötiger Gewalt und gleichzeitiger Konsum tierlicher Produkte – ist die offene Wunde, auf die veganes Salz fällt. Denn die vegane Lebensweise trägt der Ablehnung unnötiger Gewalt in grösstmöglichem Masse Rechnung – gerade weil sie von der Norm abweicht. Nun könnte eingewendet werden, dass mit manchen Menschen einfach nicht geredet werden kann, weil sie eine in sich geschlossene Weltsicht haben und für Fakten und Argumente nicht zugänglich sind. Dieser Vorwurf mag teilweise seine Berechtigung haben, aber er trifft für den Veganismus prinzipiell nicht zu: Die Fakten und Argumente des Veganismus liegen auf dem Tisch. Sie sind allen zugänglich und damit nicht unangreifbar, sondern im Gegenteil der ständigen Kritik ausgesetzt. Diese Kritik aber, will sie sich der Aufklärung und Wahrhaftigkeit verpflichten, muss fundiert und sachbezogen sein. Man muss sich auf die Argumente einlassen. Ebenso müssen sich Vegane auf berechtigte Kritik einlassen. Nur so kann eine Diskussion wirklich fruchtbar sein.

Ausgrenzung von Tieren durch Sprache

Die beschriebenen sprachlichen und diskursiven Ausschlussmechanismen betreffen nicht nur die Ebene der Argumentation innerhalb eines Gesprächs. Auch die Tiere selbst sind von der sprachlichen Abwertung betroffen, beginnend beim Begriff «Tier», in dem die ganze Verschiedenheit und Komplexität bestimmter Lebewesen ausgeblendet wird. Ein Schimpanse ist einem Menschen in den meisten Hinsichten ähnlicher als einem Regenwurm – und doch leugnet die Unterscheidung zwischen «Mensch» und «Tier» die Nähe zwischen Menschen und Schimpansen. Diese Unterscheidung ist kein Zufall, sie ist elementar für das Selbstverständnis der Moderne und damit unserer Gesellschaft. Blickt man zurück, so lässt sich feststellen, dass die Abwertung von Tieren denselben Mechanismen unterliegt wie die jahrtausendelange Unterdrückung von Frauen, Menschen mit bestimmter Hautfarbe oder bestimmten religiösen Gruppierungen. Der «Mensch» war sehr lange Zeit der weisse, europäische oder amerikanische Mann. Sklaven, Frauen, Schwarze hatten in diesem Begriff keinen Platz. Der Mann war der rationale Mensch, der sich von seinen Trieben befreien konnte, die anderen dagegen waren naturverbunden, gefühlsaffin und ihren Trieben ausgeliefert. In einer Gesellschaft, die die Rationalität zum obersten Kriterium erhebt, in der der Geist über der Natur, die Seele über dem Körper steht, ist die Nähe zur Natur und zur Emotion per se minderwertig. Die sprachliche Analyse zeigt weiterhin, wie die Unterdrückung von Tieren mit der von Frauen einhergehen kann. Männer gehen «auf die Jagd», um «einen Fang zu machen». Früher bezeichnete die Wendung «a bit of meat» vom männlichen Standpunkt aus zuerst Geschlechtsverkehr und dann Prostituierte. Frauen wurden und werden wie Tiere passiv betrachtet, als etwas, das es sich anzueignen gilt. Es zieht sich durch die Geschichte, bestimmte Menschengruppen abzuwerten, indem ihre Nähe zu Tieren immer wieder betont wird, sie als «Untermenschen» aus dem Bereich des Menschlichen ausgeschlossen werden: «Man behandelte sie wie Tiere» – diese Aussage offenbart nicht nur die Herabwürdigung bestimmter Menschen, sondern sie festigt zugleich den Opferstatus von Tieren. In dieser Aussage wird die Gewalt an Tieren für legitim erklärt.

Auf gleicher Höhe diskutieren

Auf der einen Seite steht die zumindest formale Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig von Rasse, Geschlecht oder sexueller Präferenz, wie sie in den meisten demokratischen Systemen verwirklicht ist, auf der anderen Seite stehen Tiere, die industriell verarbeitet werden und formal nur so weit Rechte besitzen, als ihre Interessen nicht den wirtschaftlichen Gewinn schmälern. Sie treten nicht als Individuen auf, sie sind Waren und Produktionsmittel.
«Tiere sind Opfer, weil sie anders sind, und sie sind anders, weil sie schon immer Opfer waren.» – Birgit Mütherich
Tiere werden nicht gegessen, weil sie minderwertig sind. Tiere sind minderwertig, weil sie gegessen werden. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant nannte die Faulheit und die Feigheit als diejenigen Merkmale, die die Aufklärung der Menschen verhindern. Es wäre ein Anfang, die Feigheit zu überwinden und sich einer Diskussion zu stellen. Es wäre ein Anfang, die Faulheit zu überwinden und sich der lieb gewonnenen, aber längst widerlegten Argumente zu befreien, die nur deswegen Gültigkeit besitzen, weil sie die Argumente der Mehrheit sind. Denn dann würde man sich auf Augenhöhe begegnen und wirklich diskutieren. Dieser Artikel erschien erstmals im Magazin Blaufux.

Fussnoten

[1] auf die Wortherkunft, -geschichte und -bedeutung bezogen. [2] Viele Menschen entdecken in dieser Hinsicht den Buddhismus für sich, dem das Element der goldenen Mitte zu eigen ist. Siddharta Gautama – der ursprüngliche Buddha – lehnte die totale Askese ab, die in den Hungertod führt, ebenso wie das Leben im Prunkpalast. Seine goldene Mitte bestand darin, eine Schüssel Nahrung täglich zu essen und so nicht des Hungers zu sterben. Es ist nicht davon auszugehen, dass jene, die den goldenen Mittelweg verteidigen, diesen Anspruch des Buddha und dessen Auffassung der goldenen Mitte ebenfalls haben.

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