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Mensch & Tier

Ist der Mensch ein besonderes Wesen?

Zwischen Menschen und anderen Tieren ziehen viele eine scharfe Linie. Doch ist das gerechtfertigt? Eine Spurensuche von Hans W. Schill.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Nur der Mensch fliegt zum Mond, nur der Mensch tippt ins Smartphone, nur der Mensch entdeckt das Higgs-Boson, nur der Mensch geht ins Fitnesscenter, trägt Jeans und brät Fischstäbchen – ist es nicht völlig offensichtlich: Der Mensch ist ein ganz und gar besonderes, ein einzigartiges Wesen! Solche und ähnliche Äusserungen höre ich immer wieder in Diskussionen im Freundes- und Bekanntenkreis. Und üblicherweise folgt daraus flugs der Schluss: Ist es also nicht richtig, den Menschen vom Tier grundsätzlich zu unterscheiden?

Diesen grundlegenden Unterschied zwischen Mensch und Tier kennt man in der Philosophie unter dem Namen «anthropologische Differenz». Die anthropologische Differenz behauptet, es gäbe zwischen dem Menschen auf der einen Seite und dem Tier auf der anderen Seite eine unüberschreitbare Grenze – und in diesem Kollektivsingular «das Tier» sollen dann alle Tiere versammelt sein, jedes Tier, von der Auster bis zum Waldschimpansen, von der Steinkoralle bis zum Grossen Tümmler, vom Wimperntierchen bis zum Kolkraben. Seit 2500 Jahren haben abendländische Philosoph*innen in immer neuen Anläufen versucht, einen entscheidenden Unterschied zu finden, der erklären soll, was Menschen vom Tier sondert – und damit zugleich, was der Mensch selber ist.

Das grösste Gewicht in der Philosophiegeschichte hatte vielleicht Aristoteles‘ Definition des Menschen als das Tier, das über Sprache verfügt. Aber auch Kandidat*innen wie Vernunft, Selbstbewusstsein, freier Wille, aufrechter Gang, Hand, unsterbliche Seele, Werkzeuge und Technik, Politik, Moral und noch viele andere mehr wurden (und werden!) immer wieder angeführt. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die alten Frankfurter Soziologen, sagen an einer Stelle: «Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde» – ich glaube, sie haben recht.

Der Mensch – ein Tier unter anderen

Denn offensichtlich scheint zunächst einmal: Zwischen einem Schwamm und einem Berggorilla existiert eine enorm viel grössere Unähnlichkeit als zwischen einem Berggorilla und uns. Warum also sollte der Mensch (Homo sapiens) von allen anderen Tieren grundsätzlich unterschieden sein? Seit Darwin ist weitherum anerkannt, dass eine kontinuierliche Entwicklung allen Lebens stattgefunden hat: Von einem ersten Mikroorganismus vor etwa 3.5 Milliarden Jahren bis hin zu den Säugetieren verläuft eine durch Variation und Auslese bestimmte, natürliche Evolution. Alle Lebewesen sind im weitesten Sinne miteinander verwandt und gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück. Dies scheint mir sowohl für den Common Sense wie für die Wissenschaft unzweifelhaft; physiologische Gleichartigkeit (etwa ein übereinstimmendes Skelett bei allen Säugetieren), ähnliche DNA oder Fossilien liefern allzu starke Belege für die Evolutionstheorie.

Natürlich: Es gibt noch Leute (ihre Anzahl scheint sogar wieder zuzunehmen), die glauben, der Mensch sei als gottähnliches Wesen quasi fertig vom Himmel gefallen respektive von Gott erschaffen worden. Aber darüber möchte ich hier nicht sprechen. Was könnte man dazu sagen? Einigermassen nachvollziehbar wäre m. E. einzig die Behauptung, dass ein göttliches Wesen bei der Entstehung von Leben überhaupt seine Hand im Spiel hatte – dies aber würde die Evolutionstheorie keineswegs beeinträchtigen. (Leben könnte übrigens auch vom Mars oder einem Asteroiden kommen – was einige Forscher*innen tatsächlich glauben –, ohne die evolutionäre Sicht zu relativieren.) Biologisch-physiologisch spricht schlicht alles dafür, dass wir Tiere unter Tieren sind.

Der Mensch – ein Kulturwesen

Wie aber steht es mit den gewaltigen menschlichen Fähigkeiten und Leistungen, auf die in den besagten Diskussionen gerne verwiesen wird? Es ist sicher nicht zu leugnen, dass der Mensch – ohne Zweifel befähigt durch Gehirngrösse und Sprache – in ungeheurem Masse Selbst-Hergestelltes hervorbringt und damit in seine Umwelt eingreift (davon zeugt nicht zuletzt die drohende Klimakatastrophe). Der Schweizer Tierphilosoph Markus Wild weist darauf hin, dass die menschliche Welt mehr oder weniger komplett aus eigenen Erzeugnissen besteht: Unsere Welt ist die Summe unserer eigenen kulturellen Praxis und voller Dinge, die aufeinander verweisen und die Informationen tragen, die weit über ein einzelnes Menschenschleben hinausreichen.

So zeugt etwa alles, was mich hier und jetzt beim Schreiben dieser Zeilen umgibt, von einer langen kulturellen Entwicklung: Schreibtisch und Bürostuhl, die leere Konservendose, in der meine Filzstifte und Kugelschreiber stecken, die winkende asiatische Goldkatze, die Postkarte aus Griechenland, die halb ausgetrunkene Kaffeetasse, Lippenpomade, Computer, Maus und Tastatur, Notizblock und Kopfhörer usw. usf. Alle diese Dinge musste ich weder selber erfinden noch herstellen, sondern ich habe sie wie selbstverständlich aus sozialer und öffentlicher Tradition übernommen: Uns umgibt quasi überall, wo wir hinkommen, bereits ein riesiges Archiv der Menschheitsgeschichte. Auch der Natur begegnen wir nicht unmittelbar, sondern stets mit Hilfe von diversem Zeugs: mit Wanderschuhen, Google Maps, Müsli-Riegel, Postauto zum Beispiel.

Nicht-menschliche Tiere und Kultur

Hier haben wir einen deutlichen, quantitativen Unterschied zu anderen Tieren – aber es bleibt bei einem quantitativen. Denn auch nicht-menschliche Tiere stellen Dinge her, bekannt ist etwa die Herstellung und der Gebrauch von Werkzeugen bei Affen.

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In der BBC-Serie «Life» von 2009 kann man z. B. sehen, wie Kapuzineraffen grosse Nüsse von Palmen pflücken; dabei prüfen sie zunächst, welche Nüsse die reifsten sind, entfernen anschliessend die faserigen Hüllen und lassen die Nüsse eine Woche lang in der Sonne trocknen. Durch Zusammenschlagen wird dann geschaut, ob die Trocknung genügend fortgeschritten ist; ist dies der Fall, werden sie schliesslich geknackt: Flache Felsen dienen dabei als Amboss und ein sorgfältig ausgewählter, härterer Stein als Hammer. Sowohl Fels-Amboss wie Stein-Hammer werden nicht bloss einmalig gebraucht, sondern bilden quasi einen Werkzeugkasten, zu dem die Affen immer wieder zurückkehren.

Der niederländische Primatologe Frans de Waal berichtet davon, wie Schimpansen morgens vor dem Frühstück oft grosse, raue Pflanzenblätter zuerst sorgfältig falten und dann ganz herunterschlucken. Warum? Die unverdaulichen Blätter dienen als mechanisches Mittel, um innere Parasiten loszuwerden. Nicht alle Schimpansen-Populationen nutzen diese Technik und nicht alle nutzen dieselbe Pflanze dafür – d. h. es handelt sich um eine kulturelle Tradition!

Aber auch ausserhalb der Primatenwelt gibt es Werkzeuge: So entfernen Neukaledoniakrähen Blätter von kleinen Ästen, um damit in morschen Baumstämmen nach Larven zu stochern. Seeotter knacken Muscheln und Seeigel mit Hilfe von Steinen, die sie sich auf dem Rücken schwimmend auf den Bauch legen, um die Beute darauf zu schlagen. Werkzeuggebrauch, Technik oder Kultur allen anderen Tieren generell abzusprechen, scheint also nicht möglich.

seeotter
Ein Seeotter beim Muschelknacken | Foto: Deutschlandfunk Nova

Der Mensch – eine Bestie?

Es gibt jedoch eine weitere Art, auf einer kulturellen anthropologischen Differenz zu bestehen, eine, die der obigen scheinbar zuwiderläuft, nämlich die Behauptung, die Einzigartigkeit des Menschen bestehe in seiner aussergewöhnlichen moralischen Niedrigkeit. Kein Tier sei zu solcher Grausamkeit und Brutalität fähig wie der Mensch, kein Tier töte seine Artgenossen, kein Tier verspüre Lust an Gewalt, kein Tier führe Krieg, kein Tier kenne Vergewaltigung und Folter, kein Tier beute die Natur aus – so etwa lauten die Behauptungen. Der Mensch sei in Wahrheit tierischer als das Tier selbst, eine wahre Bestie.

In dieser Erzählung – die ihrerseits eine lange Tradition hat – wird die zivilisatorische Entwicklung des Menschen nicht als Fortschritt und einzigartige Glanzleistung betrachtet, sondern im Gegenteil als zerstörerischer Niedergang, der Mensch erscheint darin als Wesen, das sich aus einem quasi-paradiesischen, unschuldigen, eben tierlichen Urzustand zu einem bestialischen Monster entwickelt hat.

Diese Sichtweise wird meist angetrieben von Verzweiflung angesichts der tatsächlich monströsen Gewalt und Zerstörung, die der Mensch in die Welt bringt (gegenüber sich selbst, gegenüber den anderen Tieren, gegenüber der Natur). Man sollte ihr dennoch misstrauen, und zwar aus zwei Gründen: Einerseits gibt es Gewalt auch bei nicht-menschlichen Tieren – und keineswegs nur «instinktive» Gewalt: So führen etwa Waldschimpansen mörderische, kannibalische Kriege um die Grenzen ihrer Territorien. Und andererseits führt man damit (wenn auch vielleicht aus echter moralischer Empörung) unbesehen eine unüberschreitbare Grenze zwischen Mensch und Tier wieder ein.

Der Geist der Tiere

Häufig geht es bei der anthropologischen Differenz letztlich um den Geist, also die Frage, ob nur der Mensch über Bewusstsein, Denken oder Begriffe verfügt. Auch hier ist zunächst wieder augenfällig, dass Menschen über ganz erstaunliche mentale Fähigkeiten verfügen – und zugleich scheint es absurd, sämtlichen übrigen Tieren jegliches Denken abzusprechen. Jedenfalls widerspricht dies komplett unserer Alltagserfahrung: Gehe ich mit der Futter-Packung zu seinem Napf, denkt Kater Elvis, dass es jetzt Essen gibt. Nehme ich die Leine von der Garderobe, glaubt Hündin Gretchen, dass wir einen Spaziergang machen. Solche Zuschreibungen machen wir selbstverständlich und wir erschliessen sie aus dem Verhalten der Tiere, das sonst keinen Sinn ergäbe.

Können nicht-menschliche Tiere aber auch in Abwesenheit eines Objektes über dieses nachdenken? Weiss Elvis, dass sich die Packung mit seinem Essen im Küchenschrank befindet? Weiss er, was ein Hund ist, ohne dass einer vor ihm steht? Kann Elvis über seine Zukunft nachdenken, gar über seinen Tod? Kann er über die Gedanken anderer Katzen nachdenken? Kann er darüber nachdenken, dass er denken kann? Dies sind schwierige erkenntnistheoretische Fragen, über die sich Philosoph*innen schon seit Jahrhunderten streiten. Es mag sein, dass nur Menschen über abstrakte Begriffe wie Liebe, Freiheit, Tugend, Natur etc. verfügen, es mag ebenfalls sein, dass nur Menschen sich über ihre eigenen Gedanken und diejenigen anderer Gedanken machen können. Es ist sogar wahrscheinlich, dass eine Kriebelmücke oder eine Venusmuschel nur über sehr rudimentäre kognitive Zustände verfügt – aber allen Tieren jedes Denken oder gar jedes Bewusstsein zu verweigern, leuchtet m. E. nicht ein. Auch im Bereich des Mentalen scheint es sich um graduelle Unterschiede zu handeln, nicht um kategorische.

Einzigartige Fähigkeiten

Aber nehmen wir einmal an, jemand würde z. B. behaupten, Begriffe zu besitzen oder Gedanken anderer zu lesen, sei ein qualitativer Unterschied, etwas, was das menschliche Tier so einzigartig und besonders macht, dass die anthropologische Differenz aufrechterhalten werden kann und muss. Die Frage, die sich dann stellt, wäre: Gibt es nicht auch bei anderen Tierarten einzigartige Fähigkeiten, die sie vor allen anderen auszeichnen? Eisbären können Robben aus über 30 Kilometern Entfernung riechen, Steinadler ihre Beute aus tausend Metern Höhe erkennen. Fledermäuse können mit Echoortung sehen, Oktopoden ihre Hautfarbe perfekt an die Umgebung anpassen. Biber können Holz verdauen. Sind dies alles nicht äusserst besondere, einzigartige Begabungen?

Man könnte einwenden, dass es sich dabei um natürliche oder «instinktive» Fähigkeiten handelt, während der Geist des Menschen etwas völlig anderes darstelle. Hier wäre meine Frage: Worum könnte es sich beim Geist des Menschen handeln, wenn nicht um etwas Natürliches? Möchten wir wirklich zurück zur Vorstellung des Menschen als einem körperlich-geistigen Doppelwesen? Das würde bedeuten, dass wir den (menschlichen) Geist erneut vollkommen vom Körper abkoppeln – etwas, was der Philosoph René Descartes in der Frühen Neuzeit vertreten hat und was heute keine ernstzunehmende Position mehr sein kann. Ich bin überzeugt, dass es sich auch bei den «höchsten» kognitiven menschlichen Leistungen um natürliche, um tierliche Fähigkeiten handeln muss.

Vom deutschen Humoristen Loriot stammt das Bonmot: «Der Mensch ist das einzige Wesen, das im Fliegen eine warme Mahlzeit zu sich nehmen kann.» Loriot hat wohl recht – der Mensch ist ein ganz und gar besonderes Wesen. So wie jedes andere Tier.

Hans W. Schill lebt vegan in Bern und ist Berufsschullehrer.

Literatur

  • Dupré, John: Darwins Vermächtnis. Suhrkamp 2009.
  • Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Fischer 1987.
  • De Waal, Frans: Der Affe und der Sushimeister. dtv 2005.
  • Wild, Markus: Anthropologische Differenz. In: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler 2016.
  • Wild, Markus: Tierphilosophie zur Einführung. Junius 2008.

Weitere TIF-Materialien zur Tierphilosophie und zur anthropologischen Differenz

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1 Kommentar

Prof. Dr. Wulf-Uwe an der Heiden
vor 1 Jahr

Es gibt wohl keinen prinzipiellen Unterchied zwischen einem Grashalm und einem augewachsenen Baum. Auch gibt es keinen zwischen einem Zelt und einem Wolkenkratzer in Manhatten. So gibt es auch keinen zwischen dem Tier Mensch und anderen Tieren. Jedoch können Unterschiede zwischen Dingen so groß ein, dass ein Vergleich oder eine Gleichsetzung absurd ist. So verhält es sich zwichen Mensch und Tier. Würde man jemals einen Hund vor Gericht stellen und ihn fragen, ob er sich schuldig bekennt, jemanden ins Bein gebissen zu haben?

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