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Mensch & Tier

Donald Watson und die „vegane Bewegung“

Jedes Jahr am 1. November feiern VeganerInnen ihren Tag. Denn damals, im November 1944, gründete Donald Watson die weltweit erste vegane Gesellschaft. Ein Blick zurück zeigt: Die Themen von einst sind auch heute noch aktuell – und genauso umstritten. Von Klaus Petrus (tif).

Text: Tier im Fokus (TIF)

November, im Jahr 1944

Als Donald Watson 2002 in einem Interview gefragt wurde, welches die grösste Errungenschaft in seinem Leben gewesen sei, antwortete der damals 92 jährige: „Dass ich zu jenen gehörte, die zum Stein des Anstosses für eine neue grossartige Bewegung wurden.“ (Watson 2002)

Es war anfangs November 1944, als sich Watson mit einigen Gleichgesinnten im Londoner „The Attic Club“ versammelte. Kurz davor erschien in „The Vegetarian Messenger and Health Review“, dem Sprachrohr der 1847 in Manchester gegründeten Vegetarian Society, ein Aufsatz mit dem Titel „Dürfen VegetarierInnen Milchprodukte konsumieren?“. Das war zugleich der Höhepunkt einer hitzigen Debatte, die innerhalb der Vegetarischen Gesellschaft schon seit 1909 geführt wurde und sich um die Frage drehte: Ist es moralisch vertretbar, zwar auf Fleisch zu verzichten, aber weiterhin Milch- und Milchprodukte zu konsumieren? (Leneman 1999)

Bereits 1912 stellte A. W. Duncan, ein Mitglied der Vegetarian Society, fest, dass die Verteidigung des Milchkonsums alles andere als überzeugend sei:

„Solange wir Milch trinken, Butter und Käse essen oder Lederwaren tragen, sind wir für die Schlachtung und Tötung von Tieren verantwortlich.“ (The Vegetarian Messenger and Health Review 9/1912)

Dennoch wehrte sich die Vegetarian Society gegen den Vorschlag, für Menschen, die auch auf Milchprodukte verzichten – sie wurden „non-dairy vegetarians“ genannt –, eine eigene Sektion zu gründen. Nach Aussagen von Watson, dennzumal Sekretär der Leicester Vegetarian Society, war dies der Grund, weshalb man sich mit einer neuen Gesellschaft Gehör verschaffen wollte: The Vegan Society.

Wieso „vegan“?

Offenbar standen zur Bezeichnung der neuen Gesellschaft etliche Namen zur Auswahl, darunter „benevore“, „beaumangeur“, „lacto-frei“ und natürlich „milch-frei“. Zwar habe sich letzterer Ausdruck inzwischen etabliert. Doch sei er – wie auch „lacto-frei“ – zu negativ behaftet, bemerkte Watson in The Vegan News, dem ersten Rundschreiben, das der Verein Ende November 1944 publizierte, und weiter:

„Ferner deutet ‚milch-frei‘ nicht darauf hin, dass wir auch gegen den Verzehr von Eiern sind. Wir brauchen für unseren Verein einen Namen, der auf das hinweist, was wir essen und möglichst eine Idee davon vermittelt, welch verblüffend vielfältiges Spektrum an Nahrungsmitteln uns die Natur trotz Verzicht auf alle tierlichen Produkte bereit hält.“ (The Vegan News 1/1944)

Schliesslich einigten sich die Mitglieder auf „vegan“. Das Wort besteht aus den ersten drei und den beiden letzten Buchstaben von „vegetarian“ – und es sollte Symbolkraft haben: Der Veganismus setzt die vegetarische Lebensweise konsequent zu Ende.

Tatsächlich war Watson der Ansicht, dass der Vegetarismus moralisch gesehen zu wenig durchdacht ist. Zwar nehmen VegetarierInnen für sich in Anspruch, dass ihretwegen keine Tiere getötet werden müssen. Das aber sei falsch. Davon abgesehen, dass auch Milchkühe im Schlachthaus enden, nachdem sie „ausgedient“ haben, können sie nur dann diese Mengen von Milch produzieren, wenn sie jährlich (künstlich) besamt werden und Kälber gebären, die ihren Müttern weggenommen und unter nachweislich schlimmen Bedingungen grossgezogen, gemästet und geschlachtet werden.

Dass VegetarierInnen zumindest „indirekt“ für die Qual und den Tod von Tieren verantwortlich sind und so gesehen aktiv an der Ausbeutung der Tiere teilnehmen, ist ein Vorwurf, der nicht erst Watson erhoben hatte.

So machte bereits der deutsche Schriftsteller Paul Andries in seinem Buch Der Vegetarismus und die Einwände seiner Gegner aus dem Jahre 1893 vor allem VegetarierInnen für die Ausnutzung der Tiere verantwortlich, und zwar mit dem Argument, dass „der indirekte Urheber eines Vergehens oder Verbrechens, moralisch genommen, meist viel schuldiger sei als der direkte Urheber“.

In eine ähnliche Richtung argumentierte Jahrzehnte davor auch der Brite Lewis Gompertz. In seinem 1824 erschienenen Werk Moral Inquiries on the Situation of Man and of Brutes widmet er dem Konsum von Milchprodukten ein eigenes Kapitel und weist darauf hin, wie eng die Fleisch- und Milchproduktion miteinander verflochten sind. Dieser Auffassung war auch Watson:

„Als Lakto-VegetarierInnen haben viele von uns während Jahren hingenommen, dass die Fleischproduktion mit der Milchindustrie eng zusammenhängt und dass sich diese beiden Zweige in gewisser Hinsicht gegenseitig unterstützen.“ (The Vegan News 1/1944)

Nicht zuletzt diese Tatsache hat später auch den Theologen Carl Anders Skriver zu der auf Anhieb provokativen Aussage bewogen, dass an der weissen Milch rotes Blut klebe. Und nichts anderes hat heutzutage der amerikanische Rechtswissenschaftler Gary L. Francione vor Augen, wenn er schreibt:

„Es gibt keinen massgeblichen Unterschied zwischen dem Essen von Fleisch und dem Essen von Milchprodukten oder Eiern. In einem Glas Milch, einer Eiswaffel oder in einem Ei stecken ebenso viel Leiden und Tod wie in einem Steak.“

Nicht bloss eine Sache der Ernährung

Allerdings wollte Watson den Veganismus nicht auf eine alternative Ernährung beschränken. Er war davon überzeugt, dass es keine moralische Rechtfertigung gibt, Tiere in irgendeiner Weise für unsere Zwecke zu nutzen. Und also sollten wir alle Formen der Ausbeutung dieser empfindsamen Wesen zurückweisen, wie im „Vegan Society Manifesto“ aus dem Gründungsjahr 1944 festgehalten wurde (Roscher 2009, 239).

Diese Auffassung vertritt die Vegan Society bis auf den heutigen Tag. Nach ihrer Definition besteht die vegane Lebensweise darin,

„soweit wie möglich und praktisch durchführbar, alle Formen der Ausbeutung und Grausamkeiten an Tieren für Essen, Kleidung oder andere Zwecke zu vermeiden und darüber hinaus die Entwicklung tierfreier Alternativen zu fördern, was dem Nutzen der Tiere, Menschen und der Umwelt dienen soll.“ (The Vegan Society, Memorandum, 1)

Wie aus dem Zitat ersichtlich, gibt es unterschiedliche Gründe, die für eine vegane Lebensweise sprechen können (siehe unten, Abb. 1). Während manche aus religiösen oder spirituellen Motiven auf tierliche Produkte verzichten, haben andere ökologische oder ökonomische Beweggründe oder sie entscheiden sich aus gesundheitlichen Überlegungen, vegan zu leben.

Für Watson spielten moralische Gründe die zentrale Rolle und hier insbesondere das Mitgefühl (compassion) für das Leiden der Tiere (Watson 2002). In dieser Hinsicht ist seine Haltung bis heute repräsentativ geblieben. Bereits in einer Studie aus dem Jahr 1979 gaben 83 Prozent der Befragten an, sie würden aus ethischen Gründen vegan leben (Brooks & Kemm 1979). In Untersuchungen von 1999 und 2007 waren es sogar 93 Prozent, wobei der ethische Veganismus seit dem Aufkommen der modernen Tierethik in den 1970er Jahren immer häufiger mit Argumenten aus der sogenannten Tierrechtsphilosophie untermauert wird (Grube 2006; Becvar et al. 2007).

Abb. 1: Auswahl von Gründen für eine vegane Lebensweise in % (gerundet, Mehrfachnennungen möglich); Quelle: Grube 2006, 121 / Info-Dossier Veganismus von tier-im-fokus.ch (tif)

Zumindest gegenwärtig sind es (wieder einmal) ökologische Gesichtspunkte, die angesichts des drohenden Klimawandels für eine vegane Lebensweise ins Feld geführt werden. So haben verschiedene Studien ergeben, dass die Herstellung und der Konsum tierlicher Lebensmittel einen beachtlichen Teil der vom Menschen produzierten Treibhausgas-Emissionen verursachen (FAO 2006; WWI 2009; Schlatzer 2010), wobei Milchprodukte im direkten Vergleich am schlechtesten abschneiden (tif 2009a). Entsprechend kommen ExpertInnen vermehrt zum Schluss, dass es zumindest rechnerisch gesehen am effizientesten wäre, wenn man sich (bio-)vegan ernähren würde (Eshel & Martin 2006; tif 2009b).

Es ist bemerkenswert, dass der passionierte Gärtner Watson bereits Ende der 1950er Jahre im Vereinsblatt „The Vegan“, das erstmals im Frühjahr 1946 erschien und auch heute noch publiziert wird, eine eigene Rubrik zum Thema „Bioveganer Landbau“ eröffnete.

Auf der Suche nach Alternativen

Die Jahre nach der Gründung der weltweit ersten veganen Gesellschaft waren vor allem durch die Suche nach „tierfreien“ Alternativen geprägt.

Schon aufgrund der im Zweiten Weltkrieg staatlich verordneten Lebensmittelrationierung standen Fragen der Ernährung im Vordergrund. So begann die Vegan Society ab 1947, gezielt Vorträge über pflanzliche Ernährung sowie Kochkurse anzubieten; zudem beteiligte sie sich an der Produktion von „Soylac“, einem rein pflanzlichen Milchpulver. Mitte der 50er Jahre wurde die „Plantmilk Society“ gegründet, die sich mit der Herstellung und dem Vertrieb pflanzlicher Milch in England befasste (Watson 2002). 1958 brachte D. C. Desai, der damalige Vize-Präsident der Vegan Society in Indien, das erste Rezept für veganes Eis auf den Markt.

Während dieser Zeit bestand die primäre Aufgabe des Vereinsmagazins „The Vegan“ darin, die Mitglieder über vegane Produkte zu informieren. Diesen Zweck erfüllte auch das „Vegan Baby Bureau“, eine Art Anlaufstelle, die von der Gesellschaft damals ins Leben gerufen wurde, um insbesondere Mütter über die vegane Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern aufzuklären.

Bereits im ersten Newsletter der Vereinsgeschichte beklagte sich Watson über die „orthodoxen Ernährungstheorien“ und deren Apologeten, die ihre Einschätzung der veganen Ernährung vor allem auf Vorurteilen bauen:

„Wir hegen starke Zweifel, dass diejenigen Ernährungsexperten, die ein Loblied auf die Vorzüge tierlicher Eiweisse singen, jemals eine vollwertige Ernährung ohne diese Proteine ausprobiert haben. Und wenn dies nicht der Fall ist, so sehen wir auch nicht ein, wie sie ein passendes Urteil abgeben könnten. Wir wissen, dass die menschliche Anatomie unbestritten der Anatomie von Früchteessern entspricht. Und wir wissen, dass der Milchkonsum von Erwachsenen eine völlig widernatürliche Absurdität darstellt.“ (The Vegan News 1/1944).

Foto © Vegan Society

In der Tat nimmt kein erwachsenes Säugetier normalerweise noch (artfremde) Milch zu sich; der Mensch hat sich hier selber zu einer Ausnahme gemacht. Was hingegen die Einschätzung betrifft, dass der Mensch aufgrund seiner natürlichen Veranlagung eigentlich ein „Pflanzenfresser“ oder gar „Früchteesser“ sei, gehen die Meinungen auch heute noch auseinander. Häufig werden die anatomischen sowie physiologischen Merkmale des Menschen (von der Mundöffnung über den Gärmagen bis hin zum Verhältnis von Darm und Körperlänge) allenfalls als Beleg dafür genommen, dass eine überwiegend pflanzliche Kost als „artgerechte“ Ernährung des Menschen gelten darf (z.B. Koerber et al. 2004, 20).

Um Vorurteilen entgegen zu wirken, gründete die Vegan Society bereits anfangs der 1950er Jahre eine eigene Ernährungsgruppe. Sie bestand aus ÄrztInnen und ErnährungsberaterInnen und wurde damit beauftragt, anhand von Studien und Daten zu belegen, dass es sich bei der veganen Ernährung keineswegs um eine „Mangelernährung“ handelt.

Diese Auffassung ist heute noch verbreitet, auch wenn sich das Urteil der Ernährungswissenschaft allmählich zu wandeln beginnt. So hat die American Dietetic Association (ADA) – mit über 70.000 Mitgliedern die weltweit grösste unabhängige Ernährungsorganisation – unlängst ihre bereits 2003 publizierte Einschätzung bekräftigt:

„Eine gut geplante vegane Ernährung oder andere Arten vegetarischer Ernährung sind für alle Phasen des Lebens geeignet, einschliesslich Schwangerschaft, Säuglingsalter, Kindheit und Jugend.“ (ADA 2009)

Zu behaupten, dass die vegane Ernährung inzwischen unbestritten sei, wäre allerdings verfehlt. Das gilt speziell auch für die Beurteilung des Konsums von Milch- und Milchprodukten, der zwar zunehmend in die Kritik gerät (tif 2009a). Colin Campbell, Autor der viel beachteten China-Study von 2005, ist nicht der einzige, der auf der Grundlage umfassender Studien zum Schluss kommt, dass Milch für den Menschen überflüssig und auf lange Sicht gesundheitsschädigend sei (Campbell 2005; Rollinger 2007). Doch zeigen gerade Beispiele wie diese, dass KritikerInnen mitunter einem massiven Druck seitens der Tierindustrie ausgesetzt werden, die ihrerseits in aufwändigen Kampagnen den „weissen Saft“ als vermeintliches „Doping der Natur“ bewirbt (Petrus 2010a).

Ethik vs. Taktik, oder: erst mal vegetarisch, dann vielleicht vegan

Zumindest indirekt war das Engagement der Vegan Society von Anfang an mit einer Kritik am (Ovo-Lakto-)Vegetarismus verknüpft. Watson selbst nahm in dieser Sache einen eher ambivalenten oder zumindest moderaten Standpunkt ein.

Auf der einen Seite redet er in seinen Texten häufig von „Widersprüchen“, in die sich der Vegetarismus aus moralischer Sicht verstrickt (siehe oben). Aus diesem Grund müsse er auch überwunden werden:

„Die fraglose Grausamkeit, die mit der Milchproduktion einhergeht, macht deutlich, dass der Vegetarismus nichts anderes ist als eine Station zwischen dem Fleischkonsum und einer wahrhaft humanen, zivilisierten Ernährung. Wir sind daher überzeugt, dass wir im Laufe unseres irdischen Daseins versuchen sollten, uns so zu entwickeln, dass wir die ‚gesamte Reise‘ zurücklegen können.“ (The Vegan News 1/1944)

Auf der anderen Seite zeigt diese Passage, dass Watson der vegetarischen Ernährung durchaus einen festen Platz auf dem „Weg zum Veganismus“ einräumt. In der Erstausgabe von „The Vegan News“ spricht er gar von einem „Platz in der Ernährungsevolution“ – eine These, die aber wenig plausibel erscheint. Jedenfalls gibt es bis dahin keinerlei Belege für ein anthropologisches Gesetz, demzufolge sich alle Menschen, die vegan leben, zunächst und über Jahre hinweg vegetarisch ernährt haben müssen.

Wahrscheinlicher ist, dass Watson den Vegetarismus als festen Bestandteil in der „biographischen Entwicklung“ von VeganerInnen betrachtete und deswegen als „sinnvollen Zwischenschritt“ anerkannte, wie er in einem späten Interview ausführt (Watson 2002). Dass diese Einschätzung auch gegenwärtig noch zutrifft, zeigen wissenschaftliche Erhebungen, denen zufolge sich VeganerInnen zuvor im Schnitt 4 bis 5 Jahre vegetarisch ernährt haben (Grube 2006, 114).

Wie zu Watsons Zeiten, nehmen vegetarische Vereinigungen diese „biographische Entwicklung“ auch heute noch als Beleg dafür, dass es gute Gründe gibt, den Vegetarismus nicht offen zu kritisieren, sondern als Bedingung für den Veganismus aktiv zu unterstützen. In diese Richtung argumentiert auch der österreichische Tierethiker Helmut F. Kaplan in seinem Artikel „Vegetarisch oder vegan?“ aus dem Jahr 1996 (dazu Stösser 2002):

„Zum Veganer wird so gut wie niemand mit einem Schritt. Vielmehr vollzieht sich die Wandlung vom Fleischesser zum Veganer fast immer über die Zwischenstufe Vegetarier. Schon allein aus diesem Grund wäre es unsinnig, die de facto notwendige Voraussetzung für den Veganismus, den Vegetarismus, zu verteufeln.“ (Kaplan 1996)

Hinter dieser Idee von den „Zwischenschritten in die richtige Richtung“ steht häufig das Bild einer moralischen Leiter, die es zu erklimmen gilt: Vom arglosen hin zum bewussten Fleischkonsum, von dort zum Vegetarismus und dann (vielleicht irgendwann einmal) hinauf auf die oberste Sprosse, dem veganen Leben, und dies alles nach dem Motto: „Es ist besser, kein Fleisch zu essen, und noch besser wäre es, vegan zu leben!“

Zumindest aus moralphilosophischer Sicht mutet dieses Bild schräg an (Petrus 2008). Einmal davon abgesehen, dass sich mit einer Argumentation, wie sie im obigen Zitat angedeutet wird, auch der Fleischverzehr moralisch rechtfertigen lässt – und zwar schlicht deshalb, weil die meisten VegetarierInnen zuvor Fleisch konsumierten –, ist nicht einzusehen, wie es ethisch gesehen „richtig“ oder nur schon „besser“ sein kann, kein Fleisch zu essen und stattdessen ‚bloss‘ Milch- oder Eiprodukte zu konsumieren.

Wenn derlei richtig sein soll, dann müsste es auch richtig sein, beispielsweise Kälber unter meist grausamen Bedingungen zu mästen und zu schlachten oder Milliarden von männlichen Küken zu vergasen. Denn dies sind unmittelbare – und auch von Watson häufig angesprochene – Konsequenzen der vegetarischen Lebensweise und damit der Auffassung, dass es zulässig ist, wenigstens bestimmte Tiere als Ressourcen zu betrachten, die für uns da sind: als Milchkühe oder Legehennen, zum Beispiel.

Wohl deshalb wird oftmals zwischen zwei Ebenen der Kritik am Vegetarismus unterschieden:

Die eine, eben angedeutete Ebene ist die moralphilosophische, die den Vegetarismus als „offenkundig widersprüchlich“ ausweist, wie auch Watson zu bedenken gibt (The Vegan News 1/1944).

Die andere Ebene lässt sich als pragmatische oder, wie Kaplan dies vorschlägt, als „politisch-strategische Ebene“ bezeichnen (Kaplan 1996). Sie berücksichtigt die lebensweltliche Tatsache, dass es für die Menschen (zumindest gegenwärtig) „einfacher“ oder „bequemer“ ist, bloss auf Fleisch statt mit einem Schritt auf „alles“ vom Tier zu verzichten – ein Punkt, den Watson ebenfalls ins Auge fasst:

„Es ist uns bewusst, dass der Verzicht auf sämtliche Milchprodukte zu Schwierigkeiten führen kann, die von Person zu Person unterschiedliches Ausmass annehmen können. Und wir wissen auch, dass es gegenwärtig nicht gerade leicht ist, einen solchen Ernährungswandel zu vollziehen.“ (The Vegan News 1/1944)

Watson fügt aber auch an:

„Und doch sind wir der Meinung, dass uns schon bald viele im ‚Bestreben nach Frieden‘ folgen werden, wenn wir bereits heute die Grundsteine für unsere Bewegung legen.“ (ebd.)

Dass es „leichter“ ist, sich zunächst einmal vegetarisch zu ernähren statt bereits vegan zu leben, betrachtet Watson so gesehen als kontingentes und damit veränderbares Faktum, oder anders gesagt: Er sieht genau darin einen guten Grund, vermehrt über die vegane Lebensweise aufzuklären und Massnahmen zu ergreifen, welche die Verfügbarkeit veganer Produkte erhöhen.

Damit wird nicht bestritten, dass es (mitunter) schwierig ist, sein Leben auf vegan umzustellen. Vielmehr steht dahinter die Auffassung, dass die Idee vom Vegetarismus als „notwendiger Zwischenschritt“ zum Veganismus das Resultat einer fehlgeleiteten Propaganda ist – einer Propaganda, die offenbar auszuschliessen scheint, dass man auch ohne Umwege über den Vegetarismus „schrittweise“ auf tierliche Produkte aller Art verzichten kann (Petrus 2010b). Um der festgefahrenen Idee „zuerst vegetarisch, dann vegan“ entgegen zu wirken, hat Gary L. Francione in den vergangenen Jahren Tierrechtsorganisationen dazu aufgerufen, sich an einer gross angelegten, weltweiten Veganismus-Kampagne zu beteiligen.

Lifestyle oder politische Bewegung?

Foto © tier-im-fokus.ch (tif)

Schon in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens wurde der Vegan Society vorgeworfen, sie richte sich bloss an Gleichgesinnte und würde damit einen esoterischen Lebensstil (lifestyle) bedienen.

Tatsächlich war für viele Mitglieder ihre persönliche Abscheu gegenüber Grausamkeiten an Tieren das tragende Motiv, sich in der Vereinigung zu engagieren. Insofern mag es durchaus sein, dass sie den Entscheid, vegan zu leben, nicht als allgemeinverbindliche Pflicht, sondern als weitgehend private Sache betrachteten und damit als Ausdruck ihres ureigenen Mitgefühls mit Tieren.

Dafür könnte auch sprechen, dass sich etliche dieser Mitglieder – wie auch Watson selbst – der Reformbewegung um die Jahrhundertwende verpflichtet fühlten. Ein zentrales Thema dieser Bewegung war die kritische (oder zumindest skeptische) Haltung gegenüber Lebensbedingungen, wie sie mit der Industrialisierung und dem Beginn des Massenkonsums aufkamen (Barlösius 1996). Dabei ging es nicht so sehr darum, durch politisches Engagement oder mittels staatlicher Institutionen entsprechende Veränderungen zu erwirken. Zunächst und vielmehr ging es darum, bei sich selbst zu beginnen. Lebensreform sollte zu allererst heissen: Selbstreform.

Ob Watson selbst der Ansicht war, die vegane Lebensweise sei letztlich eine persönliche Angelegenheit, ist anhand seiner Äusserungen schwer zu entscheiden. Mangelndes politisches Bewusstsein konnte man ihm deswegen allerdings nicht vorwerfen. Watson war Dienstverweigerer und überzeugter Pazifist; und er sah in der veganen Lebensweise unzweifelhaft ein Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit (Watson 2002).

Diese Auffassung wird auch heutzutage vertreten. BefürworterInnen eines ethischen Veganismus wie Gary L. Francione oder Lee Hall verstehen die vegane Lebensweise als Teil der Friedensbewegung (Francione 2007; Hall 2009). Sie votieren entsprechend für gewaltfreie Formen der Aufklärung, die den Veganismus über den (nach wie vor engen) Kreis Gleichgesinnter hinaus bekannt machen und ihm auf diese Weise Öffentlichkeit verschaffen.

Im Gegensatz zu Watson aber betrachtet z.B. Francione den Veganismus nicht als persönlichen Entscheid und damit als moralische Option, sondern als Imperativ, der sich bereits daraus ergibt, dass wir keine moralische Rechtfertigung haben, Tiere für unsere Zwecke zu gebrauchen (Francione 2006).

In den vergangenen Jahren wurde gegen diese Ansichten – wie schon zu Watsons Zeiten – der Vorwurf erhoben, lediglich einen „Lifestyle-Veganismus“ zu pflegen, der blind für fundamentale, politische Prozesse sei. So ist der amerikanische Philosoph Steven Best überzeugt:

„Francione hat sich im Wesentlichen an Watsons ursprünglichen Lehren orientiert, allerdings oftmals in verwässerter Form, indem er die ethische Vision beibehält, dass die Wahl des Essens mit der moralischen Verpflichtung gegenüber unterdrückten nichtmenschlichen Tieren verbunden ist. Allerdings leitet er daraus keine politische Verpflichtung ab, gegen sämtliche Formen der Unterdrückung zu kämpfen.“ (Best 2010)

Für Best – und zunehmend auch für junge Leute, die vegan leben und sich für Tierrechte in einem politischen Kontext engagieren – ist der „Kampf gegen die Ausbeutung der Tiere“ Ausdruck einer Haltung, die Herrschaftsverhältnisse allgemein in Frage stellt und damit sämtliche Ausprägungen von willkürlicher Diskriminierung und Unterdrückung umfassen muss.

Aus diesem Grund sollte sich das Engagement der Bewegung laut Best nicht primär auf vegane Aufklärung und die Bewusstseinsveränderung von Individuen richten, sondern auf Institutionen, die Herrschaftsverhältnisse ermöglichen und Macht ausüben. Dabei sei hinsichtlich der Aktionsformen grundsätzlich eine pluralistische Haltung einzunehmen, was unter bestimmten Bedingungen auch Direkte Aktionen miteinschliesst, wie z.B. Tierbefreiungen oder gar Sabotageakte (Best 2005).

Das ist eine Ansicht, die Hall und Francione vehement zurückweisen (Hall 2006; Francione 2010). Watson selber gab sich in dieser Frage eher zurückhaltend: Er sei nie in Direkte Aktionen involviert gewesen, heisst es in einem Interview aus dem Jahre 2002, doch habe er grossen Respekt vor dem Mut und dem Risiko, das Leute auf sich nehmen, um z.B. Tiere aus Versuchslabors zu befreien (Watson 2002).

Skeptisch gegenüber dem Veganismus als Lifestyle sind auch jene, die auf institutionell-politischer Ebene Verbesserungen für die Tiere erzielen möchten, sich dabei aber ausdrücklich auf klassische Formen des Zivilen Ungehorsams beschränken.

Der österreichische Aktivist Martin Balluch vom Verein gegen Tierfabriken (VgT) beispielsweise ist zwar ebenfalls der Meinung, dass man sich für eine bessere Verfügbarkeit veganer Produkte einsetzen oder die vegane Idee mit Themen verknüpfen sollte, die bereits gesellschaftliche Relevanz haben (z.B. Ökologie). Doch gibt er auch zu bedenken, dass der vegane Le­bensstil in einem System, das den Nutzungsanspruch des Menschen an Tiere für selbstverständlich hält, für den Einzelnen häufig mit einem zu hohen Auf­wand verbunden sei:

„Selbst wenn sich die Einstellung eines Menschen verändert, ist die entsprechende Verhaltensänderung, wenn sie nicht systemangepasst ist, so energieaufwendig, dass die meisten Menschen sie nicht lange durchhalten. Für eine nachhaltige Änderung der Gesellschaft ist daher eine Systemänderung das vorrangigste Ziel.“ (Balluch 2009, 56)

Erfolgsversprechender, so Balluch, ist deshalb die Strategie, auf der sozialen oder politischen Ebene anzusetzen. Dabei soll mit konfrontativen Kampa­gnen Druck auf die Tierindustrie erzeugt werden, und zwar v.a. mit Themen, die in der Öffentlichkeit bereits eine gewisse Sympathie geniessen. Das primäre Ziel besteht also nicht so sehr in der Bewusstseinsveränderung einzelner Personen in Richtung Veganismus, sondern in einer Verschärfung der Tierschutzgesetze (Balluch 2008; 2009).

Die Vegan Society hat sich seit ihrem Bestehen mit derlei Themen weniger auseinander gesetzt. Insbesondere hat sie sich nie als politisch aktiver Teil der Tierrechtsbewegung verstanden, die in Grossbritannien schon aus historischen Gründen vergleichsweise stark ist (Roscher 2009). Obschon viele Mitglieder inzwischen einen klar tierrechtlerischen Hintergrund haben, fokussiert die Gesellschaft ihre Bemühungen doch primär auf die Verbreitung der veganen Lebensweise, wie Vanessa Clarke, internationale Koordinatorin der Vegan Society, in einem Interview mit (tif) betont. So konzentrierte sie sich in den letzten Jahren insbesondere auf Entwicklungs- und Schwellenländer wie Afrika oder Indien, wo sich die Essgewohnheiten zunehmend dem westlichen Ernährungsstil anpassen, was nicht bloss bedeutet: mehr Fleisch, sondern insbesondere auch: mehr Milch und Milchprodukte.

„The future is vegan“

Im Winter 1944/45 hatte die Vegan Society 48 Mitglieder, im Jahr darauf, als auch VegetarierInnen im Verein zugelassen wurden, stieg die Zahl auf einige Hundert an. Heute zählt die Gesellschaft an die 5.000 Mitglieder und allein in Grossbritannien leben über 300.000 Menschen vegan. Weltweit sind es inzwischen Millionen.

Von einer „veganen Bewegung“ kann gleichwohl nicht die Rede sein, der Veganismus ist nach wie vor eine gesellschaftliche Randerscheinung. Einer der Gründe könnte darin bestehen, dass es sich dabei (entgegen aller Vorurteile) nicht um eine einheitliche Doktrin mit festgeschriebenen Prinzipien handelt. Es gibt sehr unterschiedliche Gründe, vegan zu leben, wenngleich die Mehrzahl der VeganerInnen ihre Lebensweise letztlich als Ausdruck einer moralischen oder politischen Haltung anderen Tieren gegenüber betrachten. Sie sind davon überzeugt, dass wir kein Recht haben, Tiere wie Ressourcen zu behandeln, die für uns da sind und die wir nach Gutdünken ausbeuten dürfen: Tiere gehören sich selbst, nicht uns.

Eine solche Haltung wird häufig noch als „radi­kal“ be­zeichnet. Doch ist nicht auszuschliessen, dass sich diese Einschätzung schon in absehbarer Zeit relati­vieren wird. Der Umgang des Menschen mit Tieren ist ihm in nahezu allen Bereichen zur Last geworden, nicht bloss, was seine sonderbare Moral betrifft. Das Spektrum reicht von negativen Aus­wirkungen der Nutztierhaltung auf unsere Umwelt über soziopolitische Probleme der Weltarmut und Ernährungssicherheit bis hin zu gesundheitlichen Risiken, die der Konsum tierlicher Produkte immer häufiger in sich birgt.

Falls Probleme dieser Art zu den Herausforderungen der kommen­den Jahrzehnte gehören – und vieles deutet darauf hin –, wird zwangsläufig auch die ve­gane Lebens­weise für eine breitere Öffentlichkeit zum Thema werden.

tier-im-fokus.ch (tif) bedankt sich bei der Vegan Society für die Erlaubnis, Fotomaterial zu benutzen, und speziell bei Vanessa Clarke für Auskünfte über die britische vegane Gesellschaft.

Die Übersetzungen aus The Vegan News (No. 1 / November 1944) ins Deutsche stammen von Gabrielle Christen (gc).

Literatur

Balluch, M. (2008), Abolitionism versus Reformismus, Verein gegen Tierfabriken (VgT) Österreich.

Balluch, M. (2009), Widerstand in der Demokratie, Wien.

Barlösius, E. (1996), Naturgemässe Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt, New York.

Becvar, W. D. et al. (2007), Veganismus als Lebensstil, Studie Universität Wien.

Best, S. (2005), The New Abolitionism, drstevebest.org.

Best, S. (2010), Manifest für einen radikalen Abolitionismus, biteback.de.

Brooks, R. & Kemm, J. R. (1979), Vegan Diet und Lifestyle, in: The Proceedings of the Nutrition Society 38/1979.

Campbell, C. (2005), Die „China Study“, Bad Klötzting 2010 (Original 2005).

Eshel, G. & Martin, P. A. (2006), Diet, Energy and Global Warming, in: Earth Interactions 10/2006.

FAO (2006), Livestock’s Long Shadow, Rom.

Francione, G. L. (2006), Veganism: The Fundamental Principle of the Abolitionist Movement, December 2006.

Francione, G. L. (2007), Abolition and Incremental Reform, Januar 2007.

Francione, G. L. (2010), Animal Welfare, Militant Direct Action, Mantras and Blind Faith, September 2010.

Grube, A. (2006), Vegane Lebensstile, Stuttgart.

Hall, L. (2006), Carpers in the Churchyard, Darien.

Hall, L. (2009), What Are Animal Rights? The Vegan Peace Declaration, April 2009.

Kaplan, H. F. (1996), Vegetarisch oder vegan?, in: Tierbefreiung aktuell 1/1996.

Koerber, K. v. et al. (2004), Vollwert-Ernährung, Heidelberg.

Lenemann, L. (1999), No Animal Food: The Road to Veganism in Britain, 1909-1944, in: Society and Animals 7/1999.

Petrus, K. (2008), Vegetarisch oder vegan?, in: Vegi-Info 1/2008 (französische Übersetzung hier).

Petrus, K. (2010a), Bio-Milch von Bio-Kuh, oder: Was die Werbung nicht alles verbirgt, tier-im-fokus.ch (tif), Januar 2010.

Petrus, K. (2010b), Nicht Fisch! Nicht Fleisch! Aber Milch?, tier-im-fokus.ch (tif), Februar 2010.

Rollinger, M. (2007), Milch: besser nicht, Erfurt (1. Aufl. 2004).

Roscher, M. (2009), Ein Königreich für Tiere: Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung, Bremen.

Schlatzer, M. (2010), Tierproduktion und Klimawandel, Wien.

Stösser, A. (2002), Kaplans Antiveganismuspropaganda, in: Voice 30/2002.

tif (2009a), Milch, Info-Dossier 6/2009 von tier-im-fokus.ch (tif).

tif (2009b), Bio, Regio oder Saison?, Info-Dossier 22/2009 von tier-im-fokus.ch (tif).

Watson, D. (2002), Interview with Donald Watson on Sunday 15 December 2002, by George D. Rodger, Vegan Society.

WWI (2009), Lifestock and Climate Change, World Watch Institute, November/December 2009.

Weitere tif-Materialien zum Thema

  • Info-Dossier Veganismus von tier-im-fokus.ch (tif): einführender Text über die Motive für eine vegane Lebensweise.
  • Literatur & Links zum Thema Vegan von tier-im-fokus.ch (tif): viele Informationen über Theorie und Praxis der veganen Lebensweise sowie eine Auswahl von Links zu Organisationen, Foren, Blogs etc., die über unterschiedliche Facetten des Veganismus berichten.
  • Info-Dossier Vegane Ernährung von tier-im-fokus.ch (tif): ausführliche ernährungsphysiologische Bewertung mit vielen Literaturangaben; auch gut geeignet fürs Nachschlagen.
  • Vegane Kochbücher: Auswahl von veganen Kochbüchern für alle Lebenslagen mit Kommentaren zu Vor- und Nachteilen.
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