28Jun 17
Mensch & Tier
Den Speziesismus sichtbar machen
Die Sprache trägt dazu dabei, die Gewalt an Tieren zu rechtfertigen und zu verschleiern. Doch sie kann auch dazu dienen, den Speziesismus zu überwinden. Von Tobias Sennhauser (TIF).
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«Okay, viel Platz haben sie nicht», räumt der Schweinemäster ein, «aber in sechs Monaten werden sie eh wieder geschlachtet.» Er zuckt mit den Schultern. Seine Schweine leben auf Vollspaltenboden. Sie wiegen bis zu 120 Kg und müssen mit weniger als einem Quadratmeter pro Tier auskommen. In der Ecke hängt ein zerkauter Holzkolben. Daran sollen sich die gestressten Schweine abreagieren. Dennoch kauen sie einander an den Ohren und am Ringelschwanz rum. In der intensiven Produktion entwickeln manche Schweine Verhaltensstörungen, andere neigen zum Kannibalismus.
Wir beuten sogenannte Nutztiere als Ressourcen aus und opfern ihre vielfältigen Bedürfnisse kurzerhand den Interessen der Industrie. Wir sperren sie ein und instrumentalisieren sie, bis sie nach einem Bruchteil der eigentlichen Lebenserwartung bereits wieder getötet werden. Pro Jahr sind das alleine in der Schweiz knapp 70 Millionen Nutztiere, Fische und Krustentiere nicht eingerechnet. Die Gewalt an Tieren kennt kaum Grenzen. Wir dürfen das. Weil wir Tiere als minderwertig betrachten.
Die willkürliche Privilegierung der eigenen Spezies wird als «Speziesismus» bezeichnet. Tiere dürfen also deshalb zur Ware degradiert werden, weil sie keine Menschen sind. Wir, die angebliche Krone der Schöpfung, pflegen einen hemmungslosen Artenegoismus. Der Begriff des Speziesismus ist nicht zufällig gewählt, sondern an andere Unterdrückungsformen angelehnt wie Rassismus oder Sexismus. Stets sind es körperliche Merkmale, die die Diskriminierung ganzer Gruppen rechtfertigen sollen. Sei es die Hautfarbe, das Geschlecht oder eben die Spezies.
Es war der Bioethiker Peter Singer, der den Speziesismus 1975 in seinem Buch «Animal Liberation» bekannt machte. Heute ist die Kritik am Speziesismus der gemeinsame Nenner aller progressiven Tierbewegungen, die den Nutzungsanspruch des Menschen am Tier abschaffen wollen.
Abgrenzung durch Sprache
Zentral für die Diskriminierung der Tieren ist die Sprache. Sie trägt massgeblich zur Abgrenzung zum Tier und damit zum Selbstverständnis des Menschen bei. Viele tausend Jahre wurde sie als ausschliesslich menschliche Fähigkeit betrachtet. Bereits der antike griechische Philosoph Aristoteles meinte, bloss Menschen seien der vernünftigen Rede (gr. logos) mächtig. In der Tierphilosophie spricht man heute von der anthropologischen Differenz: Was unterscheidet der Mensch vom Tier, oder genauer: von anderen Tieren? Das sogenannte Sprachargument, wonach bloss Menschen sprachbegabt seien, fiel in den 1960er-Jahren. Damals entdeckten ForscherInnen die Schimpansin Washoe. Eigentlich sollte sie als Versuchstier verdingt werden, doch die ForscherInnen brachten ihr die Taubstummensprache bei. Mit Erfolg: Washoes Wortschatz umfasste bald 250 Begriffe, die sie bei Bedarf neu kombinieren konnte. Als Washoe zum ersten Mal einen Schwan sah, soll sie intuitiv «Wasser» und «Vogel» kommuniziert haben. Vor rund 10 Jahren starb die Schimpansin 43-jährig. Washoe war das erste Tier, das eine menschliche Sprache beherrschte. Anders als Washoe verfügen die meisten nicht-menschlichen Tiere indes nicht über die kognitiven Fähigkeiten, die zum Erwerb einer menschlichen Sprache nötig sind. Gemäss dem speziesistischen Vorurteil dürften sie also weiterhin von der moralischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Doch die moralische Relevanz des Spracharguments ist umstritten. In der Tierethik wird anhand sogenannter menschlicher Grenzfälle ein argumentativer Widerspruch aufgezeigt: Säuglinge oder Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind ebenfalls nicht sprachbegabt. Dennoch dürfen ihre Rechte deswegen (korrekterweise) nicht missachtet werden. Die Fähigkeit zu sprechen ist also moralisch irrelevant, zumindest in Bezug auf elementare Rechte, wie Leben oder Unversehrtheit.Sprachliche Diskriminierung
Tiere fühlen, denken und träumen – ähnlich wie Menschen. Dennoch werden sie systematisch auf ihre Nützlichkeit für uns Menschen reduziert. Dieses Herrschaftsverhältnis wird auch durch die Sprache legitimiert. In ihrem Essay «Die soziale Konstruktion des Anderen» bezeichnet die Soziologin Birgit Mütherich «das Tier» als fiktive Kategorie, die dem Menschen dazu dient, sich von (anderen) Tieren abzugrenzen. Kulturell hätten sich nicht unsere Gemeinsamkeiten oder biologische Verwandtschaft durchgesetzt, sondern eine ontologische Kluft: Menschen und Tiere seien grundverschieden. Für Mütherich ist die Sprache ein Mechanismus zur Selbstaufwertung und der Abwertung der Anderen. Der Begriff «Fleischproduktion» etwa beschreibt beschönigend die Verdinglichung von Tieren in der Nahrungsmittelindustrie. Er erinnert an eine mechanische, moralisch unproblematische Tätigkeit. Tatsächlich werden Tiere auf Hochleistung gezüchtet, in Massen gemästet und schliesslich fast vollautomatisch zerstückelt und vakuumiert. Die guten Vorsätze, wie sie im Tierschutzgesetz festgehalten sind, werden dem Profit geopfert. Die Gewaltkultur, der Tiere in der Industrie unterworfen sind, wird begrifflich verschleiert.Unser Verhältnis zu Tieren erforschen
Die sprachliche Diskriminierung von Tieren wird auch von den Human-Animal-Studies (HAS) erforscht. Die aufstrebende, interdisziplinäre Forschungsrichtung will Tiere in der Gesellschaft berücksichtigen und sichtbar machen. Gerade ist das erste deutsche Studienbuch mit dem gleichnamigen Titel «Human-Animal-Studies» erschienen. Mitautor Reinhard Heuberger kritisiert darin den anthropozentrischen Sprachgebrauch, womit Tiere als minderwertig klassifiziert werden. Heuberger beschreibt unsere Sprache als speziesistisch, «da Tiere aufgrund ihrer Nichtzugehörigkeit zur Spezies Mensch lexikalisch anders bezeichnet und behandelt werden.» Selbst wenn es sich um ein und dieselbe Tätigkeit handelt, hindert uns das nicht daran, für Menschen und Tiere unterschiedliche Begriffe zu verwenden. Menschen essen, Tiere fressen, Frauen gebären, weibliche Tiere werfen, Menschen sterben, Tiere verenden und nach dem Tod sind wir Leichen, Tiere hingegen Kadaver. Die Sprache dient hier dazu, so manche LinguistInnen, eine emotionale Distanz zwischen Mensch und Tier zu schaffen. Für Reinhard Heuberger fehlt es an einem systematischen Sprachmodell, das geeignet wäre, den anthropozentrischen Sprachgebrauch nachhaltig zu ersetzen. Deshalb gehe es derzeit erstmal darum, überhaupt ein Bewusstsein zu schaffen für die sprachliche Diskriminierung der Tiere. Heuberger ist optimistisch, denn unsere Einstellung gegenüber Tieren, der Umwelt, aber auch unsere Ernährungsgewohnheiten haben sich geändert. Immer mehr Leute werden vegan, das zeigen Zahlen. «Mit diesen soziokulturellen Entwicklungen ist auch der Nährboden für einen Sprachwandel mehr gegeben als in früheren Jahrzehnten.»Die Sprache nutzen
Die Sprache zementiert und reproduziert die Ausbeutung der Tiere. Doch sie kann auch dazu dienen, dagegen anzukämpfen. Dann nämlich, wenn es gelingt, den Begriff «Speziesismus» in die Gesellschaft zu transportieren. Erst wenn der Speziesismus als solcher benannt wird, wird auch die Ideologie sichtbar, die er beschreibt. Um den Speziesismus zu überwinden, muss die Gesellschaft zuerst für die systematische Gewalt an Tieren sensibilisiert werden. Dazu braucht es eine Abkehr vom traditionellen Tierschutz. Anstatt bloss gravierende Missstände anzugehen, muss die Kritik an der Herrschaft des Menschen über das Tier in den Vordergrund. Davon könnte auch die vegane Bewegung profitieren. Sie, die heute oft auf ihr Konsumverhalten reduziert wird, würde eine soziale Dimension erhalten: der Kampf für Gerechtigkeit über die Speziesgrenzen hinweg.Demo gegen Speziesismus (www.facebook.com/events/225138004633750).Der Artikel erschien erstmals im Magazin megafon. Wir wollen den Speziesismus überwinden! Am 1. Juli 2017 organisieren wir in Bern eine grosse
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