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Interview

„Wir spiegeln uns gern in Tieren“ (1)

Kaum ein Feuilleton, das nicht über die wundersamen geistigen Fähigkeiten von Schimpansen, Delfinen, Papageien, Hunden oder Schweinen zu berichten weiss. Doch was hat es eigentlich damit auf sich: mit dem viel zitierten "Geist der Tiere"? Klaus Petrus von tier-im-fokus.ch (tif) unterhält sich mit Markus Wild, einem Spezialisten in Sachen Tierphilosophie.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Im ersten Teil des Gesprächs geht es vor allem um die Frage, womit sich die Tierphilosophie befasst und welche Argumente für und wider den Geist der Tiere ins Feld geführt werden. Im zweiten Teil wird darüber diskutiert, welche moralischen Konsequenzen sich aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Geist der Tiere für unseren Umgang mit ihnen ergeben können.

Intelligente Tiere: Krähe verwendet Werkzeug © dpa

Teil 1: Was ist Tierphilosophie?

KLAUS PETRUS: Affen, die sich im Spiegel erkennen, Papageien, die Zahlen und Farben auseinander halten, Hunde und Schweine, die über die Intelligenz 5-jähriger Kinder verfügen. Die Studien über anscheinend besondere Fähigkeiten von Tieren häufen sich. Und immer wieder ist darin vom „Geist der Tiere“ die Rede. Was hat man sich darunter vorzustellen?
MARKUS WILD: Nun, so besonders finde ich diese Fähigkeiten und Fertigkeiten eigentlich gar nicht. Ich bin häufig nicht erstaunt darüber, wenn man herausfindet, dass Krähen aus Draht Werkzeuge herstellen, Schimpansen mithilfe von Steinen Nüsse knacken, Häher ihre Vorräte neu verstecken, wenn sie von ihren plünderfreudigen Artgenossen beim Vergraben beobachtet werden, oder Elefanten ein besonderes emotionales Verhältnis zu toten Artgenossen unterhalten.

Ich wäre sogar überrascht, wenn wir bei diesen agilen, flexiblen und sozialen Wesen gar keine solchen Fähigkeiten finden würden.

Doch was bedeutet es, dass man solche Fähigkeiten und Fertigkeiten findet? Wie soll man sie interpretieren? Welche Art von Bewusstsein müssen Tiere mit sich bringen, um sie ausüben zu können? Und wie findet man etwas über dieses Bewusstsein heraus? Für die „Tierphilosophie“ sind das die entscheidenden Fragen.

Du hast jetzt von „Bewusstsein“ gesprochen. Umfasst der Geist der Tiere aber nicht mehr als jenen geistigen Zustand, den wir normalerweise „Bewusstsein“ nennen?
Tatsächlich könnte man statt vom „Geist“ der Tiere auch vom „Bewusstsein“ der Tiere sprechen. Der Ausdruck „Geist“, den man sich am besten als Übersetzung des englischen Wortes „mind“ denkt, ist allerdings umfassender.

Bei der Rede vom Geist geht es zwar auch um Bewusstsein, also um bewusste Empfindungen wie Schmerz, Durst oder Hunger, um bewusste Erlebnisse wie eine erschreckte Flucht oder ein freudiges Spiel oder um das Bewusstsein der Umgebung und seiner selbst.

Es geht aber auch um Gefühle, Wünsche, Gedanken, Wissen, Absichten und um die Fähigkeit nachzudenken, Schlüsse zu ziehen, zu zweifeln, Pläne zu schmieden, andere hinters Licht zu führen, anderen etwas zu zeigen usw.

Und schließlich geht es auch um Handlungen. Der Geist von Menschen und Tieren ist ja nicht etwas Innerliches und Verborgenes. Wir unterscheiden, ob mit einem Wesen bloss etwas geschieht, ob es Reflexe zeigt, ob es Verhalten zeigt, oder ob es handelt und selbst etwas tut.

Wenn wir nun von einem Wesen sagen wollen, dass es Geist hat, dann erwarten wir mindestens, dass sich diese Wesen nicht nur aufgrund von Reflexen, Instinkten, Mechanismen oder Routinen verhält, sondern so etwas wie Handlungen zeigt, die mit Bewusstsein, Absichten, Überlegungen verbunden sind.

Kannst Du das an einem Beispiel illustrieren?
Du hast gleich am Anfang die Affen genannt, die sich im Spiegel erkennen. Dahinter steht ein einfaches Experiment, das vielen bekannt sein dürfte: Man markiert die Stirne eines Schimpansen mit einem roten Punkt, aber so, dass er diesen Vorgang nicht bemerkt. Dann gibt man ihm die Gelegenheit, sich in einem Spiegel zu sehen, mit dem er zuvor bereits herumhantiert hat.

Die Frage ist nun: Was wird er tun, welche Handlungen führt der Schimpanse aus? Interessiert er sich für den gespiegelten Punk? Oder versucht er den Punkt auf seiner Stirne zu berühren und zu entfernen? Tatsächlich tut der Schimpanse letzteres; das tun auch andere Menschenaffen, Elefanten, Elstern, Papageien und Kleinkinder.

Und daraus lässt sich dann ableiten, dass diese Tiere über Bewusstsein oder gar Selbstbewusstsein verfügen?
Zumindest behaupten das manche: Der Affe erkennt sich im Spiegel, also verfügt er über Selbstbewusstsein.

Aber warum sollte man das sagen? Vielleicht hat der Schimpanse einfach gelernt, einen Spiegel zu benutzen, um über Körperpartien Auskunft zu erhalten, die er ansonsten nicht sehen kann, und seine Fähigkeit hat gar nichts mit Selbstbewusstsein zu tun. [1]

Dagegen würde man doch sagen wollen, dass er den Spiegel zu benutzen gelernt hat, um Auskunft über seine Körperpartien zu erhalten. Schliesslich berührt er ja seine Stirn und nicht irgendeine Stirn! Also muss er doch wissen, dass er es ist, den er im Spiegel sieht. Aber selbst wenn man das zugibt, sollte man immer noch präzisieren, in welchem Sinne der Schimpanse hier Selbstbewusstsein zeigt.

Wenn derlei Experimente nicht beweisen, dass beispielsweise Schimpansen eine Vorstellung oder einen Begriff von sich selbst haben, was zeigen sie dann?
In meinen Augen zeigen sie vor allem, dass Tiere wie Schimpansen ein ausgeprägtes Körperselbst besitzen. Schimpansen sind Lebewesen, die sich durch eine Umwelt voller Gegenstände bewegen und ihr Verhalten nach der Position ihres Körpers in dieser Umwelt ausrichten. Dazu müssen sie über eine Art „Körpervorstellung“ oder „Körperbegriff“ verfügen.

Die Selbsterkennung im Spiegel ist einfach ein etwas ungewöhnliches Beispiel für die wichtige natürliche Fähigkeit, über die Position des eigenen Körpers Bescheid zu wissen. Nun kann man vielleicht sagen: Diese Körpervorstellung ist eine grundlegende Form von Selbstbewusstsein, nämlich ein Bewusstsein der Position des eigenen Körpers in einer Umgebung. Der Schimpanse hat also ein Körperselbst.

Aber mit „Selbstbewusstsein“ meinen wir normalerweise mehr, nicht wahr? Wir meinen Bewusstsein von einem Selbst, das empfindet, wahrnimmt, fühlt, wünscht, meint, weiss, beabsichtigt usw. Und dieses Selbst existiert nicht nur jetzt in einem Raum. Es hat auch die Vorstellung einer eigenen Vergangenheit und einer eigenen Zukunft.

Es liegt auf der Hand, dass der Spiegeltest, für sich genommen, nichts davon zu zeigen vermag.

Nun gibt es einige Fachleute, darunter vor allem PhilosophInnen, die der Meinung sind: So etwas wie Geist (also Bewusstsein, Denken, Handeln) kann nur einem Wesen zugeschrieben werden, das auch Selbstbewusstsein in dem eben angesprochenen anspruchsvollen Sinne hat. Ohne Selbstbewusstsein, kein Geist! Wie stehst Du dazu?
Ich glaube nicht, dass Wesen ohne Selbstbewusstsein über keinen Geist verfügen. Wir haben im 20. Jahrhundert etwa von der Psychoanalyse oder von der Kognitionswissenschaft gelernt, dass es geistige Zustände gibt, ohne dass Bewusstsein von ihnen vorhanden wäre. Warum sollte ein Wesen nur wahrnehmen, beabsichtigen, meinen oder wissen können, wenn es auch ein Bewusstsein davon hat, dass es wahrnimmt, beabsichtig, weiss und will?

Leute, welche die Position vertreten, dass Wesen ohne Selbstbewusstsein auch keinen Geist haben, müssen nicht bestreiten, dass Tiere viele intelligente und erstaunliche Fähigkeiten an den Tag legen. Aber sie sind halt der Meinung, dass diese Fähigkeiten nicht Ausdruck von Geist sind, weil diese Tiere nicht über Selbstbewusstsein verfügen.

So hat beispielsweise der Philosoph Reinhard Brandt in seinem kürzlich erschienenen Buch „Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie“ gesagt:

[D]ie Schimpansin und Elster vor dem Spiegel können ihr Spiegelbild sehen und auf diesen optischen Eindruck reagieren. Es ist jedoch fraglich, ob sie in den Farben und Formen, die sich dem Sehsinn bieten, sich so erkennen, wie wir erwachsenen Menschen es vor einem Spiegel tun und deswegen davon sprechen, sie, die Schimpansin, sehe sich im Spiegel. Vielleicht bietet sich jedoch der Schimpansin nach einiger Gewöhnung die Vorstellung eines Zombie, eines Wiedergängers, der sie nachäfft und der gleiche Bewegungen usw. vollzieht wie sie; einen Begriff vom Spiegel und dessen allgemeiner Funktion hat sie sicher nicht.“ [2]

Ich selbst bin mir da nicht so sicher. Die allgemeine Funktion eines Spiegels besteht darin ihn zu benutzen, um bestimmte Zonen (im Alltag meistens Körperpartien) sichtbar zu machen, die man ohne Hilfe des Spiegels nicht oder nur sehr schwierig zu Gesicht bekäme. Und genau für diesen Zweck verwendet auch der Schimpanse einen Spiegel.

Wie gesagt, das allein verweist noch nicht auf Selbstbewusstsein. Aber ich bin doch der Ansicht, dass sich auf der Grundlage des Spiegeltests ein überzeugendes Argument bauen lässt (und ich bin gerade dabei, es aufzubauen), das zeigt, dass Schimpansen ein Bewusstsein von einigen ihrer geistigen Zustände haben. Die Grundidee ist diese: Ein Schimpanse weiss, ob ihn ein anderer Schimpanse sieht oder nicht. Das ist empirisch gut belegt. Er weiss auch, dass er sich selbst im Spiegel sieht. Also weiss er, dass er sich sieht. Wenn das Sehen ein geistiger Zustand ist, dann hat er also Bewusstsein von einem geistigen Zustand. Und das ist Selbstbewusstsein.

Das Bild von Brandt ist übrigens unbeabsichtigt sehr sprechend: Wir erwachsenen Menschen vor einem Spiegel! Die Tierphilosophie versucht indirekt auch etwas gegen den verheerenden Narzissmus zu tun, der uns verfolgt und im Wege steht, ohne dass wir es merken. Schliesslich hat der Narzissmus auch etwas Angenehmes an sich. Wir spiegeln uns ja gern und die Auseinandersetzung mit Tieren ist immer auch eine Auseinandersetzung mit uns selbst, mit unseren Lebensbedingungen, unseren Fähigkeiten, unseren Phantasien, unseren Gefühlen, und unserem Sinn oder Nichtsinn für Gemeinschaft.

Es gibt ein weiteres Argument, das sich über Jahrhunderte hinweg hartnäckig gehalten hat und auch heute noch einige namhafte Philosophen vertreten: Tiere haben keine geistige Fähigkeiten, weil sie keine Sprache haben. Ohne Sprache, kein Geist! Was genau steckt hinter diesem Argument?
Tatsächlich sind nicht wenige der Ansicht, dass man für Bewusstsein, Denken und Handeln über Begriffe verfügen oder sprechen können muss.

Auf den ersten Blick leuchtet das irgendwie auch ein. Offenbar gibt es viele Unterschiede zwischen dem, was Menschen tun können, und dem, was andere Tiere tun können. Und der augenfälligste Unterschied ist natürlich die Sprache. Vielleicht ist die Sprache der ausschlaggebende Unterschied zwischen Mensch und Tier, vielleicht macht gerade sie den grossen Unterschied oder wie ich das auch genannt habe: die anthropologische Differenz. [3]

Nun muss man aber zunächst verstehen, was mit der These „Ohne Sprache, kein Geist!“ eigentlich gemeint ist und was damit nicht gemeint ist.

Wenn ich über solche Themen im Unterricht spreche, dann glauben die Studierenden häufig: Das Problem besteht bloss darin, dass wir bei Tieren nicht so gut herausfinden oder wissen können, was in ihnen vorgeht und was sie sich gerade so denken, weil sie halt nicht sprechen können. Vereinfacht gesagt: Könnten Tiere sprechen, dann wüssten wir auch, was sich in ihnen abspielt.

Das ist aber ein Missverständnis. Es geht nicht darum, wie man erkennen kann, was in sprachlosen Tieren vorgeht. Es geht vielmehr darum, dass es gar nichts zu erkennen gibt, wenn das Tier nicht spricht und nicht zu einer Sprachgemeinschaft gehört.

Die Argumente dafür sind sehr komplex. Letztlich geht es darum, dass geistige Fähigkeiten – wie etwa das Haben von Gedanken und das Denken ohne Sprache und ohne Sprachgemeinschaft – nicht möglich sind, weil sie eine Art gemeinsames und inneres Sprechen sind. Der Mensch, so sagte bereits Aristoteles, ist ein soziales, sprechendes Lebewesen. Und, so meinen heutige Philosophen, er ist nur als soziales, sprechendes Lebewesen auch ein Wesen mit geistigen Fähigkeiten. Ein Lebewesen, das nicht spricht, hat keine geistigen Fähigkeiten.

Und was hältst Du davon?
Ich nehme diese Argumente sehr ernst, stehe ihnen aber auch ausgesprochen skeptisch gegenüber.

Zweifellos gibt es eine ganze Menge von Gedanken oder geistigen Fähigkeiten, die ohne Sprache nicht möglich sind. Aber das bedeutet nicht, dass ohne Sprache gar keine Gedanken oder geistigen Fähigkeiten möglich sind. Dass wir Personen nach dem Inhalt ihrer Gedanken befragen können, und sie uns mittels Sprache darüber Auskunft geben, ist bloss eine „Vereinfachungsbedingung“ für die Bestimmung von Inhalten, aber keine „Ermöglichungsbedingung“.

Das ist bei Kleinkindern auch der Fall. Vielleicht können sie uns nicht immer über den Inhalt ihrer Gedanken Auskunft geben. Und doch gehen wir davon aus, dass sie Gedanken haben, die von etwas Bestimmtem handeln…
In gewisser Weise schon. Aber sowohl bei Kleinkindern als auch bei Tieren neigen wir dazu, ihre Verhaltensweisen einer Interpretation zu unterziehen und zu sagen, dass sie nun dieses wollen oder jenes meinen oder folgende Überlegung angestellt haben.

Wichtig ist zu sehen, dass wir sowohl bei Kleinkindern als auch bei Tieren in erster Linie nicht-sprachliches Verhalten als Grundlage haben. Deshalb erscheinen die Inhalte zunächst sehr unbestimmt. Angenommen, ich halte jemandem einen Apfel und eine Birne hin und er nimmt den Apfel. Zeigt er nun eine Präferenz für Äpfel, für runde Dinge oder für rote Dinge? Oder zeigt er eine Abneigung gegen Birnen, gegen längliche oder gegen gelbliche Dinge?

Doch auch hier geht es nicht um prinzipielle Unmöglichkeiten. Vielmehr geht es darum, die Umwelt des betreffenden Wesens kennen zu lernen und unsere Zuschreibungen durch Versuchsanordnungen weiter zu spezifizieren. Beispielsweise kann man der Versuchsperson eine rote Birne und einen roten Apfel, eine gelbe Birne und einen gelben Apfel anbieten usw. Auf diese Weise kommt man auch dazu, den Inhalt von Tiergedanken genauer zu bestimmen. Die differenzierte Unterscheidungsfähigkeit im Verhalten führt zu dieser Bestimmung. Vermutlich wird man nicht dahin gelangen, alle Unbestimmtheiten auszuräumen. Doch diesen Spielraum finden wir auch bei Übersetzungen zwischen menschlichen Sprachen.

Wir haben jetzt vor allem darüber geredet, was wir unter „(Selbst-)Bewusstsein“ oder „Gedanken“ verstehen und uns dabei gefragt, inwieweit man diese Begriffe auf Tiere anwenden kann. Nun gibt es einige, die genau das kritisieren und behaupten: Wer über den Geist der Tiere philosophiert, vermenschlicht sie! Denn Denken, Bewusstsein, Wünschen, Hoffen etc. sind Begriffe von uns Menschen für uns Menschen. Andere entgegnen: Es ist doch offensichtlich, dass Tiere über diese Fähigkeiten verfügen. Andernfalls wären wir gar nicht in der Lage, ihr Verhalten zu erklären. Liegt die Wahrheit dazwischen?
Ja, in gewisser Weise liegt die Wahrheit dazwischen! Das Problem der Vermenschlichung, das Du ansprichst, wird ja als Problem des Anthropomorphismus oft diskutiert. Klären wir diesen Anthropomorphismus ein wenig auf:

Wenn wir anthropomorphisieren, dann betrachten, beschreiben und erklären wir Tierverhalten so, als ob es menschliches Verhalten wäre. Dies wird bisweilen – wie Du andeutest – als Vorwurf formuliert. Damit ist gemeint, dass es falsch sei, Tierverhalten zu anthropomorphisieren, weil dadurch zwei vollkommen unterschiedliche Bereiche vermengt werden: der menschliche und der tierliche Bereich. Da es aber doch um die Frage geht, ob es sich hier tatsächlich um zwei vollkommen unterschiedliche Bereiche handelt, sollte man den Vorwurf in dieser Form nicht akzeptieren!

Manchmal wird der Anthropomorphismus auch so verstanden, dass er der Auffassung in die Hände spielt, dass wir Tierverhalten lediglich wie ein „als-ob“ menschliches Verhalten betrachten. Aber auch das scheint mir unzutreffend. Ich glaube, dass ein kritischer Anthropomorphismus Tieren mehr zugestehen kann als nur einen „als-ob-Geist“.

Mir ist verschiedentlich aufgefallen, dass aufgeschlossene VerhaltensforscherInnen gerne von einem solchen „kritischen“ oder „aufgeklärten Anthropomorphismus“ reden. Kannst Du uns erklären, was damit gemeint ist?
Man stelle sich vor: Ameisen attackieren einen Käfer auf ihrem Haufen, zwei Krähen attackieren einen Bussard in der Luft, ein Hund attackiert einen Mann, der sein Herrchen bedroht. Wir mögen zugeben, dass Ameisen einfach auf ein chemisches Signal reagieren. Aber es fällt uns schwer, die Krähen oder den Hund nicht so zu beschreiben, als würden sie sich in dieser Situation absichtsvoll verhalten. Die Krähen und der Hund haben die Absicht, den Störenfried zu vertreiben bzw. ihre Brut oder ihr Herrchen zu beschützen. Ihre Absicht erklärt, was sie tun. Solche Beschreibungen sind von anderer Natur als die Vermenschlichung von chemischen Prozessen, Maschinen oder Fiktionen.

Dann kommt es beim „kritischen Anthropomorphismus“ also einzig darauf an, ob wir es mit Wesen zu tun haben, die Absichten haben?
Nicht nur. Es geht darum, dass wir bei bestimmten Wesen schlecht auf die Hilfe von Ausdrücken wie „beabsichtigen“, „wollen“, „wissen“, „glauben“ usw. verzichten können, um zu verstehen und zu erklären, was sie tun.

Meines Erachtens sind solche Beschreibungen bei Tieren gerechtfertigt. Wir sind, wie gesagt, gut darin, Computern, dem Wetter, Trickfilmfiguren, Romanhelden, Puppen, Katzen und Kleinkindern Absichten und dergleichen zu unterstellen. Obschon wir uns bei Computern, Trickfilmfiguren, Robotern oder Pflanzen leicht davon überzeugen lassen, dass wir nur so sprechen, als ob sie Absichten oder dergleichen hätten, fällt uns dies bei Tieren schwer, um so schwerer, je ähnlicher sie uns sind.

Es scheint also einen Grund in der Sache zu geben, dass wir anthropomorphisieren. Wir betrachten das nicht nur als ein bequemes, abkürzendes Sprechen, sondern wir glauben, damit etwas zu beschreiben, das tatsächlich vorliegt. Wir verstehen aber nicht nur, was solche Redeweisen meinen, wir erklären Tierverhalten auch mithilfe solcher Redeweisen. Die Katze miaut in der Küche, weil sie Hunger hat; sie rennt auf Karl zu, weil sie glaubt, dass sie von ihm etwas zu fressen bekommt.

Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb es sinnvoll ist, Tierverhalten zu anthropomorphisieren. Er ist methodischer Art und beruft sich also nicht nur auf den Commonsense, sondern hat etwas mit der wissenschaftlichen Untersuchung von Tierverhalten zu tun. Anthropomorphe Beschreibungen lassen sich nämlich als Instrumente auffassen, die es erlauben, Fragen an das Tierverhalten zu stellen und daran anschliessend Differenzierungen vorzunehmen. Meines Erachtens ist daran nichts falsch, solange man zwei Punkte berücksichtigt:

Erstens sollte man sich darüber im Klaren sein, dass man ein bestimmtes anthropomorphes Muster auf ein Tierverhalten anwendet, mit anderen Worten, der Anthropomorphismus muss reflektiert sein.

Zweitens muss man berücksichtigen, dass uns der Anthropomorphismus als Instrument dient, um Fragen an das Tierverhalten zu stellen. Wir beziehen uns danei auf unsere eigene Erfahrung. Worauf sonst? Doch ist die Übertragung von Mustern aus der menschlichen Erfahrungswelt auf Tiere nicht der Abschluss. Es folgt die Formulierung überprüfbarer Fragen. Der wichtigste Schritt besteht dann darin, eine Theorie des Geistes zu entwickeln, die nicht nur Tiere umfasst, sondern sowohl Tiere als auch Menschen! Denn dann sind wir nicht mehr gezwungen, Bewusstsein, Denken und Handeln allein von uns aus auf andere Wesen zu übertragen, sondern uns als einen Fall, wenn auch einen sehr besonderen Fall, von Wesen mit Geist zu betrachten. Auch darum geht es in der Tierphilosophie.

Kann man demnach sagen, dass es in der Tierphilosophie eher um Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Tieren geht und nicht so sehr um Unterschiede?
Ja, die Gemeinsamkeiten stehen im Vordergrund. Dieses Interesse an Gemeinsamkeiten hat aber immer auch die Funktion, Unterschiede und Abstufungen besser in den Blick zu bekommen.

Tatsächlich ging es in der Vergangenheit, und insbesondere in der sogenannten westlichen Tradition, stärker um den Unterschied zwischen Mensch und Tier und weniger um Gemeinsamkeiten. Warum? Sicher findet sich ein gewichtiger Teil der Antwort in der christlichen und anderen mehr oder minder monotheistischen Traditionen, aber bereits die Griechen neigten dazu, diesen Unterscheid hervorzuheben.

Ich glaube, dafür gibt es zunächst einen ganz einfachen Grund: Offenbar sind uns Tiere in vielerlei Hinsicht ähnlich. Sie leben, sie bewegen sich, sie essen und trinken, sie zeugen Kinder, ziehen sie groß, sie bilden Gruppen, sie bauen Unterkünfte, sie haben Augen, Ohren, Nasen, d.h. sie sehen, hören und riechen, sie lernen und scheinen sich an Dinge zu erinnern, wir können mit Worten auf sie einwirken, wir reagieren auf ihre Äusserungen usw.

Trotzdem gibt es nun aber offenkundig viele bemerkenswerte Unterschiede zwischen Tieren und Menschen; und zwar Unterschiede, die eine andere Qualität haben als Unterschiede zwischen Tierarten.

Man interessiert sich für Mensch-Tier-Unterschiede also nicht im Gegensatz zu den Gemeinsamkeiten, sondern gerade auch, weil man die Gemeinsamkeiten sieht. Und hier entsteht dann ein Problem: Wie kann man sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zu fassen bekommen, ohne die Gemeinsamkeiten leugnen zu müssen und ohne den Graben zu weit aufzureissen.

Dabei wollte man nicht nur viele Unterschiede haben, man wollte vielmehr den einen Unterschied haben, der alle Unterschiede ausmacht. Die Idee, dass es den einen Unterschied gibt, der alle anderen Unterschiede ermöglicht, ist es, was ich „anthropologische Differenz“ nenne.

Ich glaube, ein Fehler dieser Tradition besteht darin, dass sie nach dem einen grossen Unterschied sucht, der alle Unterschiede ausmacht. Dabei kommt man eben auf solche Lösungen wie z.B. Selbstbewusstsein oder Sprache. Meines Erachtens handelt es sich um eine Gruppe von Merkmalen, die Tier von Tieren und Menschen von Tieren unterscheidet. Aber auch eine solche Gruppe von Merkmalen kann immer noch prinzipielle Unterschiede ausmachen.

Fussnoten

[1] Der Erfinder des Spiegeltests, Gordon G. Gallup, sprach im Titel seines Artikels „Chimpanzees: Self Recognition“ (Science 167 1970, 86-87), in dem er erstmals über dieses Experiment berichtete, von „Selbsterkennung“. Er sagt uns aber leider nicht, was er damit meint.

[2] Reinhard Brandt, Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie, Frankfurt a.M. 2009, S. 13.

[3] Siehe Markus Wild, Die anthropologische Differenz: Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin, New York 2006.

Markus Wild studierte Philosophie und Germanistik in Basel und ist derzeit als Dozent für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Seine Schwerpunkte sind die Philosophie des Geistes und die Philosophie der Frühen Neuzeit. Er ist Mitherausgeber des Sammelbandes Der Geist der Tiere (2005) und Autor der beiden Bücher Die anthropologische Differenz (2006) und Tierphilosophie (2008). Weitere Texte von Markus Wild: Denken Tiere? (mit Sarah Tietz), Information Philosophie 34/2006 und Wie sind Tiere? Plädoyer für einen kritischen Anthropomorphismus, in Tierrechte, hrsg. Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft Heidelberg, Erlangen 2007.

» Wir spiegeln uns gern in Tieren (Teil 2)

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1 Kommentar

Jochen Buchholz
vor 14 Jahre

„Für Tisane ist heute Alltag, was für alle Kühe selbstverständlich sein sollte: Ein weitgehend selbstbestimmtes Leben jenseits menschlicher Nutzungsansprüche.“

Liebe Mitarbeiter des tier-im-fokus!

Zunächst möchte ich Ihnen sehr, sehr herzlich danken, dass Sie sich der Sache der Tiere so engagiert annehmen und in diesem Sinn ist auch die Veröffentlichung des Interviews unendlich wertvoll!

Markus Wild sagt zum Beispiel: „Es geht darum, dass wir bei bestimmten Wesen schlecht auf die Hilfe von Ausdrücken wie „beabsichtigen“, „wollen“, „wissen“, „glauben“ usw. verzichten können, um zu verstehen und zu erklären, was sie tun. Meines Erachtens sind solche Beschreibungen bei Tieren gerechtfertigt.“

Ich denke, wir sollten gegenüber dem Begriff des Anthropomorphismus nicht allzu kritisch oder misstrauisch sein. Wir können das Verhalten solcher Tiere, dessen Verhalten wir als ein für uns relevantes Verhalten deuten, durchaus in diesem Sinne interpretieren. Sollte sich diese Interpretation jedoch irgendwann einmal als ein Fehler herausstellen, und es gäbe eine Methode, herauszufinden, dass Tiere doch nur Maschinen sind, welchen Fehler hätten wir dann begangen?

Gegen welches Recht hätten wir verstoßen, wenn wir Tiere schonen aus dem falschen Grund? Welche Straftat könnte man uns zur Last legen, wenn wir Tiere als gleichwertige Mitwesen ansehen würden, die wir in die gegenwärtigen Kulturen schonend und gewaltlos integrieren müssen? So wie Tisane und ihre Gefährten?

Mir ist in diesem Zusammenhang einfach nur folgender Gedanke gekommen. Wer zu tiefer Mitempfindung fähig ist, für den ist ein Anthropomorphismus wie Ihrer, wenn Sie Tisanes Leben „selbstbestimmt“ nennen, eine Selbstverständlichkeit. Daran ist überhaupt nichts Falsches. Es gibt nicht einen einzigen Grund dieser Selbstverständlichkeit zu misstrauen! Denn Menschen, welche Tieren in ihren genetisch bedingten Grenzen Selbstbestimmung zutrauen, haben ein Bewusstsein für die verschiedenen Qualitäten von Selbstbestimmung entwickelt.

Der Anthropomorphismus in diesem Sinn hat etwas Einfaches, Schlichtes und Selbstverständliches. Er muss nicht hinterfragt werden. Ich glaube sogar, er kann gar nicht hinterfragt werden. Weder wird es gelingen, die Gültigkeit dieses Anthropomorphismus apodiktisch zu belegen, noch das Gegenteil davon. Wir werden auch nicht wissenschaftlich nachweisen können, dass Tiere doch nur gefühllose Maschinen sind, ohne es zugleich auch uns selbst nachzuweisen. – Wir unterscheiden uns natürlich von Maschinen. Maschinen können keinen Anthropomorphismus vornehmen. Außerdem können wir nicht ausschließen, dass Tiere, wenn sie Umgang mit sanften und kommunikativen Menschen haben, nicht ihrerseits auch so etwas wie „Anthropomorphismus“ entwickeln. Nicht nur wir spiegeln uns gern in Tieren. Auch Haustiere spiegeln sich auf ähnliche Weise, bei Gelegeneheit, gern in uns.

Anthropomorphismus – also davon auszugehen, dass bekannte, eigene Gefühle auf dieselbe Weise auch in anderen Spezies wirken: Selbstverständlich ist das so! Aber wir werden nie herausfinden, auf welche Weise. Es geschieht einfach.

So, wie wir wissen, dass die Welt da ist und wir in ihr sind, ohne dass wir es je herausfinden werden auf welche Weise und warum, wissen wir auch, dass höhere Tiere so empfinden wie wir, und dass der Anthropomorphismus eine wirkende Tatsache ist, die nicht wirklich sinnvoll hinterfragt werden kann.

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