Die Stimme der Tiere
In einer Welt, die von menschlichen Interessen dominiert wird, bleiben die Bedürfnisse der Tiere oft unbeachtet. Die Tierpolitik könnte eine Brücke bauen – zu einer Gesellschaft, die für alle da ist, Menschen und andere Tiere gleichermassen. Doch wie funktioniert die tierliche Repräsentation?
Der Tierschutz steckt in der Krise. Die Zahl der getöteten Tiere in der Landwirtschaft steigt und steigt, vergangenes Jahr starben allein in der Schweiz über 84 Millionen Individuen. Schlimmer noch: Die Tiere werden in immer grösseren Hallen aufgezogen, die Massentierhaltung breitet sich aus.
Bisher vertraute man auf die Wirtschaft, um das Leid der Tiere zu reduzieren. Konsumierende sollten «besseres» oder gar kein Fleisch mehr kaufen. Doch der Labelanteil in der Schweiz dümpelt seit Jahren bei mageren 11 bis 12 Prozent, kritisiert der Schweizer Tierschutz, und eine Trendwende ist mit den steigenden Lebensmittelpreisen nicht in Sicht. Auch der Veganismus blieb zuletzt hinter seinen Erwartungen zurück. Nach euphorischem Wachstum in den letzten 5 Jahren, stagnierte der Absatz von pflanzlichen Alternativen im Jahr 2022, schreibt Coop im «Plant Based Food Report 2023».
Und dann wäre da noch die Klimakrise, die Tiere besonders stark trifft. Derzeit sterben jeden Tag 150 Arten aus, so ein Artikel auf Deutschlandfunk Kultur, weitere über eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht. Wir erleben das grösste Artensterben seit 66 Millionen Jahren. Für das 6. Massenaussterben in der Geschichte des Planeten gibt es erstmals eine biologische Ursache: den Menschen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie wir den Tierschutz aus der Sackgasse manövrieren können. Eine Möglichkeit bietet die neue Tierpolitik: die Abbildung der tierlichen Stimme in der Öffentlichkeit. Die politische Repräsentation ist normalerweise Sache der Parteien. Wie stehen dort die Chancen der Tiere?
Die Parteien und die Tiere
Parteien stehen für eine Vielfalt an Werten und Zielen, die sich in ihrer Politik widerspiegeln. Ob es um Raumplanung, Gesundheitswesen, internationale Beziehungen oder Migration geht – die Agenda ist breit gefächert. Doch der Tierschutz findet in diesen weitreichenden Programmen keinen Platz. [1]
Dass die Parteien wenig übrig haben für Tierschutz, liegt in der Natur der Sache. Parteien dienen den Menschen, die sie wählen – Tiere haben da keine Stimme. Da Tiere nicht wählen können, bleiben sie politisch stumm. Zwar gibt es in den Parteien einzelne (mehr leider nicht) Politiker:innen, die sich für Tiere einsetzen. Eine angemessene Repräsentation ist das aber nicht: Werden diese Leute abgewählt, verlieren die Tiere ihre politische Stimme.
Bei speziellen Tierparteien ist der Tierschutz mehr als ein Lippenbekenntnis. Als Single-Issue-Parteien kennen sie wenig Themenkonkurrenz. Ein prominentes Beispiel dafür ist die niederländische «Partij voor de Dieren». Seit ihrem Einzug ins nationale Parlament vor rund 20 Jahren hat sie, so der niederländische Politikwissenschaftler Simon Otjes in seinem Artikel «Animal Party Politics in Parliament», den politischen Diskurs zugunsten der Tiere massgeblich verändert. Mit ihren hartnäckigen Tierschutzvorstössen zwang sie andere Parteien dazu, sich ebenso zu positionieren.
Doch Tierparteien haben einen Nachteil: Wer sich für eine Tierpartei entscheidet, entscheidet sich auch gegen andere Parteien. Da Tierparteien primär Tiere vertreten, die restlichen Parteien primär Menschen, müssen Wählende zwischen Menschen und anderen Tieren entscheiden. Wohl mit ein Grund, wieso Tierparteien zwar in vielen Ländern existieren, meist aber ohne Mandate dastehen. Vermutlich auch in der Schweiz. [2]
Tierräte: Eine Stimme für die Tiere im Parlament
Auf Parteien allein können sich die Tiere nicht verlassen. Um ihre Interessen in der politischen Landschaft wirksam zu vertreten, bedarf es einer grundlegenden Reform unserer Demokratie: der Einführung von Tierräten.
Tierräte sind spezielle parlamentarische Einheiten, besetzt mit menschlichen Vertreter:innen, die explizit die Belange der Tiere repräsentieren. Sie könnten von der Bevölkerung gewählt oder von akkreditierten Tierschutzorganisationen ernannt werden. Diese Vertreter:innen können entweder im bestehenden Parlament angesiedelt werden oder in einer dritten Kammer. Tierräte stellen sicher, dass die Stimme der Tiere stets im politischen Diskurs gehört wird.
Ausserdem setzt die Tierpolitik bei den parlamentarischen Kommissionen an. Diese bereiten politische Geschäfte für ihren jeweiligen Rat vor. Der Entscheid von Kommissionen hat Gewicht: Oft berichten die Medien über die Abstimmung und meist folgt der Rat der Kommissionsempfehlung. Eine neue «Kommission für Tierrechte» könnte sämtliche Geschäfte vorberaten, die Tiere betreffen. Konkret wäre sie dafür verantwortlich, Gesetzesentwürfe und politische Initiativen auf ihre Auswirkungen auf Tiere zu überprüfen und das Parlament darüber zu informieren.
Die Kommission für Tierrechte würde somit eine Art «Tierwohlverträglichkeitsprüfung» durchführen, wie sie heute schon im Umweltbereich existiert. Im Umweltschutzgesetz wird eine sogenannte Umweltverträglichkeitsprüfung verlangt, wonach Behörden vor Entscheidungen über bestimmte Anlagen die potenziellen Auswirkungen auf die Umwelt analysieren und gegebenenfalls Massnahmen zur Minimierung oder Kompensation vorsehen. So ähnlich könnte auch die Kommission für Tierrechte vorgehen.
Neue Wege im Tierschutz: ein eigenes Bundesamt
In der Schweizer Verwaltung ist aktuell das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) für den Tierschutz zuständig. Dieses Amt trägt jedoch eine Doppelrolle: Es sieht Tiere sowohl als Schutzobjekte als auch als Lebensmittel. Dies führt unweigerlich zu Interessenkonflikten.
Vor diesem Hintergrund schlägt die Schweizer Philosophin und Bäuerin Sarah Heiligtag die Gründung eines neuen «Bundesamt für Tiere» vor. Dieses Amt würde die Interessen der Tiere in der Öffentlichkeit vertreten, mit dem Ziel einer umfassenden Besserstellung der Tiere in der Gesellschaft. Es könnte beispielsweise den Ausstieg aus der intensiven Tierhaltung planen und umsetzen.
Ausserdem könnte sich die Tierpolitik an Deutschland orientieren. Das Land verfügt über eine sogenannte Tierschutzbeauftragte, die politisch und fachlich unabhängig arbeitet. Zu ihren Kernaufgaben gehört die Beratung des für Tierschutz zuständigen Bundesministers, die Mitwirkung bei tierschutzrelevanten Vorhaben der Bundesregierung und die Zusammenarbeit mit den Tierschutzbehörden der Bundesländer. Die Beauftragte bearbeitet Bürger:innen-Anfragen, steht im Austausch mit Tierschutzorganisationen und veröffentlicht regelmässige Tätigkeitsberichte über ihre Arbeit. Als Schweizer Vorbild könnte der bekannte Preisüberwacher dienen.
Mehr als Symbolpolitik
Im Gegensatz zu klassischen Tierschutzreformen setzt die Tierpolitik nicht auf Verbote. Stattdessen setzt sie auf Empowerment und will die Tiere zu gleichwertigen Mitgliedern unserer Gesellschaft machen. Politische Rechte fördern die gesellschaftliche Sichtbarkeit, indem ihre Interessen auf der politischen Bühne verhandelt werden. Das stellt eine Voraussetzung für Machtveränderungen dar.
Wie die Geschichte der Frauenrechte zeigt, sind viele Politiker:innen nicht bereit, ihre Macht zu teilen. Die Tierpolitik muss deshalb aus der Bevölkerung kommen. Dazu bestehen in der Schweiz beste Voraussetzungen: Mittels Volksinitiativen können nationale, kantonale oder sogar kommunale Verfassungen umgeschrieben werden.
In einer Welt, in der Tiere meist auf ihren ökonomischen Nutzen reduziert werden und in beispielloser Zahl aussterben, bietet die Tierpolitik eine Vision für eine andere Zukunft: eine Zukunft, in der die Stimme der Tiere in unserer Gesellschaft und in unseren politischen Entscheidungsprozessen gehört und respektiert wird. Gemeinsam können wir als Gesellschaft handeln und den Tieren eine Stimme geben – für eine gerechtere und mitfühlendere Welt.
Dieser Artikel erschien erstmals im Magazin megafon.
Fussnoten
[1] Auf den ersten Blick bilden hier die Grünen eine löbliche Ausnahme, denn in ihrem Wahlprogramm fordern sie «Grundrechte für Tiere». Nach den Wahlen dürfte diese weitreichende Forderung aber rasch wieder in der Schublade verschwinden – alles andere wäre politischer Selbstmord. Auch die SVP kümmert sich gemäss Wahlprogramm um das Wohl der «Nutztiere», indem sie Grossraubtiere abknallen will. Der Tierschutz der SVP ist also heuchlerisch, zumal die Partei bei der Diskussion zur neuen Agrarpolitik sämtliche Tierschutzreformen blockierte.
[2] Mehrere Anfragen an die Tierpartei Schweiz blieben unbeantwortet.
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