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Interview

«Mortalitätsraten in der Massentierhaltung dürfen nicht akzeptiert werden»

Anfang Jahr enthüllte Tier im Fokus (TIF) schockierende Zustände in fünf Schweizer Hühnermast-Anlagen. Daraufhin reichte die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) Strafanzeige gegen sämtliche Betriebe ein. Gegen das zuständige Bundesamt erhebt TIR schwere Vorwürfe. Nun erklärt Christine Künzli (TIR) das Vorgehen.

Text: Tier im Fokus (TIF)

TOBIAS SENNHAUSER: Was werfen Sie den Tierhalter*innen konkret vor? CHRISTINE KÜNZLI: Das von uns analysierte Filmmaterial zeigt klare Verstösse gegen das Tierschutzgesetz. Zu sehen sind verletzte, sterbende und tote Hühner, die sich inmitten von lebenden Artgenossen befinden. Das Gefieder sowie die Fortbewegung der gefilmten Tiere lassen auf einen schlechten Gesundheitszustand schliessen. Einige der Hühner zeigen eine sogenannte Schnabelatmung, was auf erhebliche Atembeschwerden hinweist. Die Videosequenzen lassen darauf schliessen, dass die verantwortlichen Halter*innen ihren Fürsorgepflichten nicht nachgekommen sind. Welchen Fürsorgepflichten? Etwa der Pflicht, verletzte oder kranke Tiere sofort zu separieren und sie medizinisch versorgen oder schmerzlos töten zu lassen. Ausserdem sollten tote Tiere sofort aus dem Stall entfernt werden. Alle Tierhalter*innen müssen sich um das Wohlergehen ihrer Tiere sorgen und sie vor ungerechtfertigten Leiden, Schäden und Ängsten schützen. Kommen sie diesen Fürsorgepflichten nicht nach, machen sie sich der Tierquälerei im Sinne von Art. 26 TSchG strafbar. Gegenüber der NZZ sagte der Berner Kantonstierarzt Reto Wyss, dass das Sterben von Tieren nicht zwingend dem Tierhalter angelastet und somit nicht als Tierquälerei eingestuft werden könne. Massgebend sei, ob der Tierhalter eine (Mit-)Schuld an diesen Umständen trage. Stimmt das? Das Versterben von Tieren ist aus rechtlicher Sicht dann relevant, wenn die Tötung nicht den Tierschutzvorschriften entspricht oder ein Tier qualvoll stirbt. Wie die Aufnahmen zeigen, überliessen die Halter*innen diese Tiere einfach ihrem Schicksal. Entsprechend ist der Tatbestand der qualvollen Tötung durch Unterlassen von der Staatsanwaltschaft zu prüfen. In den Betrieben werden die Hühner im Auftrag von Micarna, Bell und Frifag gemästet. Wieso haben Sie nicht die Fleischverarbeiter angezeigt? Das Filmmaterial zeigt Verstösse gegen die Haltungsvorschriften. Für die Haltung der Tiere sind die Tierhaltenden verantwortlich. Entsprechend haben wir die Strafanzeige gegen die Tierhalter*innen und nicht gegen die Fleischverarbeiter eingereicht. Durchschnittlich werden in der Schweiz 7.575 Hühner gehalten. Sie argumentieren, dass bei derart grossen Beständen der gesetzlich erforderliche Individualtierschutz nicht mehr möglich sei. Ist die Schweizer Hühnerhaltung also gesetzeswidrig? Die Höchstbestandesverordnung des Bundes lässt die hohe Anzahl gehaltener Hühner zu. Aber die Verordnung kann die Grundsätze des Tierschutzgesetzes nicht ausser Kraft setzen. Jedes Huhn besitzt einen individuellen Schutzanspruch. Dabei spielt es keine Rolle, ob man ein einzelnes oder 18.000 Tiere hält. Die Schutzbestimmungen der Tierschutzgesetzgebung gelten gleichermassen. Kommt ein Halter seiner Fürsorgepflicht auch nur bei einem einzigen Tier nicht nach, macht er sich strafbar. Wenn dieser Individualschutz in einer Tierhaltung nicht mehr gewährleistet werden kann, handelt der Betrieb rechtswidrig. Mortalitätsraten in der Massentierhaltung dürfen daher weder von der Branche noch von den Behörden als wirtschaftliche Notwendigkeit akzeptiert werden.
Gemäss einem Kontrollhandbuch lässt das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) Mortalitätsraten von bis zu drei Prozent durchgehen. Was sagen Sie dazu? Nochmals: Mortalitätsraten dürfen nicht einfach als wirtschaftliche Notwendigkeit akzeptiert werden. Die Inkaufnahme einer Mortalitätsrate von rund drei Prozent durch das BLV ist entsprechend rechtswidrig. Das BLV hat nicht die Kompetenz, tierschutzrechtliche Vorschriften durch eigene Weisungen auszuhebeln. Auch nicht, um bestehende Probleme in der Massentierhaltung zu legalisieren. Gegen einen der fünf Betriebe im Berner Seeland wurde bereits 2016 ein Verfahren eröffnet. Erneut wurden die Auflagen für das staatliche Label «besonders tierfreundliche Stallungen» (BTS) nicht eingehalten. Richtig. Die TIR hat damals gestützt auf das von Tier im Fokus zur Verfügung gestellte Filmmaterial beim Veterinärdienst des Kantons Bern eine Meldung eingereicht. Bereits damals beanstandeten wir Tierschutzmängel, zudem wurden BTS-Richtlinien nicht erfüllt. Zwei Jahre später sind die Zustände auf diesem Betrieb dieselben. Nun hat die TIR Strafanzeige gegen den verantwortlichen Tierhalter eingereicht, zumal die Verstösse gegen das Tierschutzgesetz auch auf den neuen Filmaufnahmen klar zu erkennen sind. Es ist nun Aufgabe der zuständigen Strafverfolgungsbehörden im Rahmen eines Strafverfahrens die Strafbarkeit der gezeigten Haltungssituation zu klären. Offenbar blieb die erste Meldung ohne Wirkung. Was bringt es eigentlich, Anzeigen einzureichen? Das kommt leider immer wieder vor. Anzeigen sind ein wichtiges Mittel, um Straf- und Verwaltungsbehörden auf Missstände in der (Nutz-)Tierhaltung aufmerksam zu machen und die Behörden für die Tierschutzanliegen zu sensibilisieren. Die Bereitschaft der Behörden gegen Tierquälerei konsequent vorzugehen, ist je nach Kanton sehr unterschiedlich. Wieso? Die TIR analysiert jedes Jahr die in der Schweiz ergangenen Tierschutzstrafurteile. Bei der Verfolgung von Tierschutzdelikten stellen wir massive kantonale Unterschiede fest. In gewissen Kantonen werden regelmässig nur sehr wenige Tierschutzstrafverfahren geführt, obwohl das Tierschutzrecht in der gesamten Schweiz ungefähr ähnlich oft verletzt werden dürfte. Die sehr unterschiedlichen Fallzahlen müssen daher auf die erheblichen kantonalen Unterschiede bei der Verfolgung und Ahndung von Tierschutzdelikten zurückzuführen sein. Die zuständigen Vollzugsorgane sind offenbar nicht in allen Kantonen gleichermassen sensibilisiert und motiviert. Bei den Anzeigen liegt der Ball nun bei den kantonalen Staatsanwaltschaften. Was erwarten Sie konkret? Das analysierte Filmmaterial zeigt klare Tierschutzverstösse. Zwar tun sich viele Staatsanwaltschaften und Gerichte mit der Anwendung der Tierschutzstrafbestimmungen schwer. Dennoch gehen wir davon aus, dass die zuständigen Strafverfolgungsbehörden entsprechende Verurteilungen aussprechen werden.

Weitere Materialien zur Kampagne «Der grosse Hühner-Schwindel»:

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