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Interview

«Werft unsere Geschichte nicht weg!»

Das deutsche Tierbefreiungsarchiv dokumentiert die Geschichte der Tierbewegungen. Tobias Sennhauser (TIF) sprach mit dem Historiker und Aktivisten Tom* Zimmermann über die Entstehung der deutschen Tierrechtsbewegung sowie den Schulterschluss zwischen Ernährung und sozialem Engagement.

Text: Tier im Fokus (TIF)

TOBIAS SENNHAUSER: Nach dem 2. Weltkrieg begann die Industrialisierung der Landwirtschaft und das Aufkommen der Massentierhaltung. Der Tierschutz konnte damals bereits auf eine rund 100-jährige Tradition zurückblicken. Wieso konnte er die Massentierhaltung nicht verhindern?
TOM* ZIMMERMANN: Teile der Tierschutz-NGOs in Deutschland unterstützte in der Debatte um eine Erneuerung des Tierschutzgesetzes eher die Agrarlobby. Das war Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre. Die Stimmen der Tiere, die andere NGOs vertraten, blieben ungehört. Zynisch könnte man auf deine Frage also antworten: Der Tierschutz konnte die Massentierhaltung nicht verhindern, weil er es nicht wollte.

Wieso das?
Vielleicht liegt dies an der über 100-jährigen Tradition. Die Idee der Massentierhaltung wirkte wie eine logische Folge der Hygienediskussionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kommt hinzu: Die wenigsten Stimmen innerhalb der Tierschutzbewegung lehnten Fleischessen ab. Ausserdem fokussierte sich der Tierschutz zu dieser Zeit auf Haustiere wie Hunde oder Katzen.

Durch das Versagen des Tierschutzes und vor allem durch die ans Tageslicht geholten Bilder aus Versuchslaboren entstand in den 1970er Jahren die radikalere Tierrechtsbewegung.

Die Rede war damals von den «autonomen Tierschützern». Was waren das für Leute?
Sie  engagierten sich vor allem gegen Tierversuche. Viele hatten zuvor klassische Mittel sozialer Bewegungen genutzt, also Demonstrationen, Infostände oder Petitionen. Über die Zeit beschlich sie allerdings das Gefühl, diese Aktionen helfe Tieren zu wenig. Hinzu kam die Kritik am bürgerlichen Tierschutz, der keine Abschaffung aller Tierversuche forderte. Das wollten die Aktivist*innen ändern, direkt für einzelne Tiere. Also begannen sie, Tiere zu befreien.

Das geschah unter dem Label «Autonomer Tierschutz». Das Label verwies darauf, dass sich die Aktiven unabhängig von grösseren Organisationen engagierten.

Beschränkten sich die Aktionen des autonomen Tierschutzes auf Tierbefreiungen?
Nein. Es kamen auch Sabotageakte hinzu: Laboratorien wurden zerstört und Forschungsergebnisse entwendet oder vernichtet. Ausserdem wurde die Pressearbeit immer besser, so dass Fotos aus Laboren vermehrt an die Öffentlichkeit gelangten.

Der Staat reagierte mit Repression. Aktive der «Hamburger Bande» wurden 1985 während dem Versuch, einen Laborneubau zu zerstören, festgenommen. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautete: «Bildung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation». Schlussendlich wurden die Aktiven nicht wegen der Bildung einer terroristischen Organisation verurteilt, dennoch gab es Bewährungsstrafen zwischen 7 und 12 Monaten.

War das die Geburtsstunde der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung in Deutschland?
Ja, es spricht vieles dafür. 1985 gründete sich beispielsweise der Verein «die tierbefreier e.V.», damals noch unter dem Namen «Bundesverband der TierbefreierInnen Deutschland». Zwei Jahre später folgte dann in Hamburg die Gründung der Gruppe «Tierschutz-Aktiv-Nord» (TAN), die sich später in «Tierrechts-Aktion-Nord» umbenannte und heute unter dem Namen «Assoziation Dämmerung» agiert. Beide vertraten ein deutlich radikaleres Profil als der bürgerliche Tierschutz, der bis dahin die vorherrschende Strömung war.

«Der Abschied von Opas Tierschutzvereinen» – Gründungsprotokoll die tierbefreier e.V. | Foto: Tierbefreiungsarchiv

Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen der «Tierrechts-» und der «Tierbefreiungsbewegung»?
Im Gegensatz zur Tierrechtsbewegung fordert die Tierbefreiungsbewegung keine Rechte im juristischen Sinn, sondern vielmehr andere Gesellschaften, in denen die Bedürfnisse aller im Mittelpunkt stehen. Tierbefreiungspositionen beziehen sich häufig auf andere linke oder anarchistische Positionen. Die Grenzen zwischen beiden Bewegungen sind bisher allerdings nicht scharf gezogen. Viele Aktive fühlen sich beiden Bewegungen zugehörig.

Heute gehört die vegane Lebensweise untrennbar zur Tierrechtsbewegung. Wie kam es zum Schulterschluss von Ernährung und sozialem Engagement?
Innerhalb der aufkommenden Tierrechtsgruppen der 1980er Jahre wurde zumindest Vegetarismus thematisiert. An der Schwelle zu den 1990er Jahren wurde auch der Veganismus in Deutschland innerhalb einiger Antivivisektions- oder Tierrechtsgruppen diskutiert. Inspiriert wurden sie durch englische Aktivist*innen, die sich «vegans» nannten und keine Tierprodukte konsumierten. Vor allem den jüngeren Aktivist*innen erschien dies logisch.

Neben den Menschen, die sich gegen Tierversuche einsetzten und sich radikalisierten, waren es auch Akteur*innen der Punk- & Hardcoreszene, die Veganismus verbreiteten. Bands thematisierten Tierrechte und Veganismus in ihren Songs und auf Live-Konzerten in ihren Zwischenansagen, ausserdem gab es häufig vegane Voküs (Volxküchen).

Innerhalb des klassischen Tierschutzes ist die Verbindung zu Vegetarismus oder Veganismus übrigens bis heute kein Standard. Dies zeigen etwa die Tierwohl-Labels der Tierschutz-NGOs oder der Fleischkonsum an vielen Tierheimfesten.

Heute gilt die vegane Lebensweise als Trend. Kann das die Tierrechtsbewegung als Erfolg verbuchen?
In den letzten Jahre war die Verbreitung des Veganismus tatsächlich sehr erfolgreich. Trotzdem profitierten die Tiere wenig: In Deutschland sinkt zwar der Konsum von Fleisch, die Schlachtzahlen hingegen steigen kontinuierlich.

Mit der gesteigerten Bekanntheit des Veganismus und der häufigen Reduktion auf eine Ernährungsweise – anstelle eines moralischen Konzepts – drohen allerdings die politischen Wurzeln des Begriffs zu verwischen. Veganismus als Ernährung lässt sich gut in neoliberale Diskussionen um Körperoptimierung oder Greenwashing-Konzepte einbinden – beispielsweise, wenn Fleischunternehmen vegane Produktlinien einführen, aber ansonsten an ihren Praktiken nichts ändern.

Im 19. Jahrhundert gab es erste Tierschutzvereine, im 20. Jahrhundert erste Tierrechtsvereine. Lässt sich in der Geschichte eine moralische Evolution erkennen?
So würde ich es nicht nennen. Es gab auf jeden Fall Entwicklungen, jedoch fanden sich in den 1920er Jahren durchaus schon progressive Ansätze im Tierschutz. Die Texte von Magnus Schwantje beispielsweise lesen sich erstaunlich aktuell, von einigen sprachlichen Besonderheiten abgesehen.

Die Themenvielfalt hat sich hingegen durchaus verbreitert. Heute finden sich Tierfragen in verschiedensten sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Wissenschaftszweigen wieder, die zum Teil auf die Tierrechts-Aktivist*innen zurückzuführen sind. Dadurch entstehen neue Denkräume, die Tierfragen anders behandeln. Die Tierethik ist hier ein gutes Beispiel: Während in den 1970er Jahren vor allem die Frage «Dürfen wir Tiere essen/halten/nutzen?» im Fokus stand, gehen die Fragen heute viel weiter – beispielsweise die Diskussionen um die politische Teilhabe von nichtmenschlichen Tieren.

Beim Veganismus ist die Frage zwiespältig zu beantworten. Einerseits ist die vegane Lebensweise mittlerweile in der breiten Gesellschaft bekannt. Jedoch wird Veganismus, wie bereits beschrieben, heute teilweise vollkommen losgelöst von moralischen Ideen vermittelt und verbreitet. Das ist im Vergleich zu den 1990er Jahren – da war fast klar, dass Veganer*innen politisch aktive Personen sind – eher ein Rückschritt.

Du engagierst dich im Tierbefreiungsarchiv. Wieso braucht eine soziale Bewegung ein Archiv?
Ein Archiv ist das Gedächtnis einer sozialen Bewegung. Staatliche Archive sammeln die Überlieferungen von Staaten, hingegen kaum oppositionelle Materialien von sozialen Bewegungen wie Flugblätter, Broschüren oder Aufkleber.

Die Archivierung ermöglicht Aktiven, Medienschaffenden oder Forschenden einen Einblick in die eigene soziale Bewegung: Welche Diskussionen wurden geführt und mit welchen Argumenten? Welche Kampagnen oder Projekte gab es, was an ihnen war erfolgreich und was nicht? Welche Theorien wurden bereits vertreten und wo kann angeknüpft werden? Welche Medien werden oder wurden genutzt? – Um nur einige Zugänge zu nennen.

Wenn soziale Bewegungen ihre Materialien nicht selbst erhalten oder archivieren, dann macht es wahrscheinlich niemand. Das wiederum würde Aktivist*innen in der Zukunft den Zugang zur Geschichte ihrer sozialen Bewegung erheblich erschweren. Lasst uns doch gemeinsam dafür sorgen, dass es die nächste Aktivist*innen-Generation einfacher hat, an Debatten und Kämpfe anzuknüpfen. Werft unsere Geschichte nicht weg!

⇒ Lies auch den ersten Teil dieses Interviews: «Die Tierschutzbewegung stilisierte einige Tiere als Kriegshelden».

Über das Tierbefreiungsarchiv

«Wenn soziale Bewegungen ihre Materialien nicht selbst erhalten oder archivieren, dann macht es wahrscheinlich niemand.» | Foto: Tierbefreiungsarchiv

Das Tierbefreiungsarchiv sammelt seit 2013 Flyer, Broschüren, Magazine und Zeitschriften, Fachjournals oder Sticker verschiedenster Tierrechts- und Tierbefreiungsorganisationen und -gruppen im deutschsprachigen Raum. Daneben führt es in der Provinzstadt Döbeln eine Fachbibliothek zu den Themen Tierrechte, Tierbefreiung, Human-Animal Studies und Tierindustrie/Landwirtschaft mit mittlerweile über 500 Werken. Dort kann man das Archiv besuchen und in seinen Beständen recherchieren. Zudem bietet das Tierbefreiungsarchiv Vorträge und Workshops zur Geschichte der historischen Tierbewegung an.

Tier-Organisationen und -Gruppen sind aufgerufen, regelmässig ihre Materialien ans Tierbefreiungsarchiv zu schicken: tierbefreiungsarchiv[at]riseup.net.

Weiterführende Literatur

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