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Rezension

Kommunismus mit nichtmenschlichem Antlitz

Wir sollten Tiere nicht als Opfer, sondern als widerständige politische Akteure sehen. Das fordert der marxistische Philosoph Fahim Amir.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Fahim Amir: Schwein und Zeit. Tiere, Politik, Revolte. Nautilus Flugschrift. Hamburg 2018. 208 Seiten, ca. CHF 19.–

Im April 2019 titelte die Berner Zeitung: «Stadt Bern kapituliert vor der Krähenplage». Was die Stadt auch gegen die Saatkrähen unternimmt – Baumschnitt, Abschiessen, der Einsatz eines Falkners, künstliche Uhus –, die Vögel durchschauen die Tricks innert Kürze, splitten ihre Kolonien auf und besiedeln einfach neue Bäume. Penetrantes lautes Krächzen, zerfetzte Müllsäcke, Kot-verdreckte Autos, die Schläue, mit der die Vögel sämtliche menschlichen Abwehrmassnahmen unterlaufen – sind dies etwa Widerstandsformen, die den reibungslosen Ablauf eines marktkonformen Alltags hintertreiben?

Marxistische Zoopolitik

Krähen als Antikapitalist*innen – dies ist Fahim Amirs Sichtweise. In seinem neuen Buch «Schwein und Zeit» weigert sich der Wiener Philosoph, Tiere (nur) als Opfer menschlichen Handelns zu betrachten, als passive Erdulder unsäglichen Leids: Amir sieht Tiere vielmehr als Teil der Klassengesellschaft – und zwar im Modus des Kampfs. Er schlägt vor, «Tiere als politische Akteure des Widerstands zu fassen und tierlichen Widerstand als Motor für die Modernisierung kapitalistischer Produktionsformen zu verstehen.» Fluchtversuche von Tieren auf dem Weg zum Schlachthof? Eine praktische Kritik der Verhältnisse! Keine Tierethik verfasst Amir, weder fragt er nach der Leidensfähigkeit von Tieren noch beschreibt er die Grausamkeit der Tierfabriken – was ihn interessiert, ist hingegen: Wo und wie leisteten Tiere Widerstand? Wie hat renitentes tierliches Verhalten die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung beeinflusst? Wo haben sich Proletariat und Tiere zu Kampfgemeinschaften zusammengefunden? Marx wollte das europäische Denken vom Kopf auf die Füsse stellen – bei Amir soll es auf «Hufen und Pfoten» landen.

Auf einen ersten Blick macht dies skeptisch: Wie sollte es möglich sein, sich Tiere als kritisch-politische Akteure vorzustellen? Politische Partizipation scheint an Intentionalität und Souveränität von Individuen zu hängen – also letztlich am Personenstatus, der in modernen Demokratien nur Menschen zukommt. Amir hält sich jedoch nicht damit auf, darüber nachzudenken, ob es so etwas wie tierliche Personen geben könnte und welche Rechte solchen zugesprochen werden müssten (wie dies etwa Sue Donaldson und Will Kymlicka in ihrem Buch «Zoopolis» getan haben). Gestützt auf Michel Foucault und einen «leicht verwilderten» Marx versteht er politischen Widerstand schlicht als Weigerung, regiert zu werden.

Tiere im Widerstand

Der Hauptteil von Amirs Buch besteht aus einer Sammlung von Beispielen, die diesen tierlichen Widerstand belegen sollen: So beschreibt er etwa, wie Schweine eine vollständige Automatisation des Schlachthofs verhindert haben. Während im Laufe des 19. Jahrhunderts sämtliche Brachen eine Mechanisierung erfuhren, scheiterte alle Ingenieurskunst an der Intelligenz und Körperlichkeit der Tiere: «Keine Maschine war in der Lage, ein nicht normierbares Tier zu töten und zu zerlegen» – bis heute muss dies von Hand getan werden. Die Kehrseite (oder war es tierliche Rache?): Um die menschlichen Anstrengungen wenigstens zu erleichtern, wurde in Schlachthöfen der USA schliesslich das Fliessband erfunden – Henry Ford übernahm dieses in seine Auto-Fabriken und der Fordismus wurde zum Quantensprung für die kapitalistische Entwicklung.

In einem anderen Beispiel zeigt Amir, wie die Taube vom verehrten christlichen Symbol zur «Ratte mit Flügeln» mutieren konnte, die von Stadtbehörden bekämpft wird: Einerseits war mensch mit der industriellen Herstellung von Stickstoff nicht länger auf Taubenkot als Düngemittel angewiesen. Andererseits ermöglichten die modernen Grossstädte eine Explosion der Taubenpopulationen: Ein überreiches Angebot an Nahrung und Fussgängerzonen als neuer Lebensraum kommen den Vögeln entgegen. Ähnlich wie Punks, Junkies, Bettler*innen oder Obdachlose stören die nun als «Bakterienschleudern» verrufenen Tiere das reibungslose Funktionieren der urbanen Konsumzonen. Nicht umsonst, meint Amir, seien es für den Neoliberalismus uninteressante Menschen, die sich starrköpfig dem Tauben-Fütterungsverbot widersetzten: alte Frauen. Die «Stadttaube weiss, wie man Ärger und Zuneigung produziert. Sie ist Teil des Kampfs um urbane Commons und Aktivistin bei der Frage: Wem gehört die Stadt?»

Die Linke und die Natur

Weitere Beispiele folgen: Aus Afrika eingeschleppte Termiten, die quasi-anarchistisch in Hamburgs Untergrund existieren und sogar das Justizgebäude unterhöhlen. Ochsen, die auf englischen Märkten an der Seite des Proletariats kämpften. Herumtollende Schweine in den Strassen von New York, die im 19. Jahrhundert den Unmut von Oberschicht und Stadtbehörden erregten, auf deren Bekämpfung irische und afroamerikanische Arbeiter*innen jedoch mit den «Hog Riots» antworteten.

Dies ist alles lehrreich, inspirierend und auch stets prima zu lesen. Nur beschleicht mensch zunehmend der Verdacht, dass Amir ungewollt einer anthropomorphen Sichtweise unterliegt: Denn warum sollten sich Tiere für die Abschaffung des Kapitalismus interessieren? Schliesslich beruht Speziesismus keineswegs auf der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, sondern auf einer allgemeinen, ungleich älteren menschlichen Selbstüberhöhung. Amir unterläuft diese Kritik, indem er Kommunismus schlicht mit «Freiheit» gleichsetzt: «Was Marx über das Verhältnis von englischen zu irischen Arbeiter*innen schrieb, gilt ebenso für das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren: Es kann keine Freiheit geben, solange es noch Unfreiheit gibt.»

Der Linken wirft der Autor dabei vor, in einer Art lustvollen «Viktimologie» Tiere zu «ewigen Opfern» zu machen und ihren (solidarischen) Widerstand zu übersehen. «Bei Tieren wird die Linke rechts», sagt Amir und zielt damit auf eine romantische Vorstellung von unberührter Natur, die in linken Kreisen tatsächlich weit verbreitet ist. Er plädiert dagegen für eine neue Sichtweise: In der Nähe von Kläranlagen singen Stare nicht nur lauter, schneller und ausdauernder, sie verfügen auch über ein grösseres Repertoire an Melodien. Weshalb? Weil sie über ihre Nahrung künstliche Hormone aufnehmen, die von Menschen die Toilette runterfliessen. Spatzen bauen gerne Zigarettenstummel in ihre Nester ein. Warum? Weil sie so effektiv Milbenbefall verhindern können. Gegen einen «angestaubten Naturbegriff» und Vorstellungen von Reinheit und Unberührtheit will Amir auch Tieren ein Recht auf Chemie zugestehen und deren «Lustpotenziale» betonen. In einem schönen Bild stellt er sich die Kanalisation unter dem Berliner Club Berghain vor: «Warum sollte es nicht Amphetamin-gedopte Ratten geben, hochfrequent kopulierende Kakerlaken auf Kokain, kuscheltrunken aneinander abrutschende Kröten auf MDMA?»

Veganismus als Utopie

Zuletzt bringt der Veganer Amir dann die Kritik am Veganismus, welche von kapitalismuskritischer Seite oft zu hören ist: Durch Konsum die Welt verändern zu wollen, ist aus dieser Sicht naiv. Der Autor spart nicht mit spöttischen Kommentaren: «Wer glaubt, dass durch Veganismus Tierausbeutung abgeschafft werden könne, der gibt sich derselben Illusion hin wie unterprivilegierte Jugendliche in den Ghettos der USA, die glauben, man könne durch Crackdealen zu Wohlstand kommen.» Kritik am Kapitalismus, die sich im Kauf kapitalistischer Produkte äussert – für Amir ist das der vollständige Sieg des marktförmigen Bewusstseins: Zyniker*in, wer glaubt, mensch könne sich in eine bessere Gesellschaft quasi hinüberkonsumieren. So weit, so bekannt (und sicher nach wie vor bedenkenswert).

Interessanter ist jedoch, dass Amir bei aller Skepsis ein utopisches Potential im Veganismus erkennt: Vegan zu leben, heisst für ihn, sich ausserhalb des Normalzustandes zu begeben, mit gesellschaftlichen Mächten zu brechen. In diesem Bruch liegt die utopisch-kommunistische «Schönheit von Veg*». Nicht moralische Überlegenheit und konsumistische Reformen sollten nach Amir das Ziel des Veganismus sein, sondern ein Aufstand gegen die herrschenden Verhältnisse. Solidarisch mit widerständigen Tieren.

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