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Rezension

„Animal Suffering: Philosophy and Culture“ (Elisa Aaltola)

Was ist tierliches Leiden? Wo tritt es auf? Und was geht uns Menschen das an? Die Philosophin Elisa Aaltola greift in ihrem neuen Buch diese Fragen auf. Tobias Sennhauser von TIF hat es gelesen und besprochen.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Elisa Aaltola, Animal Suffering: Philosophy and Culture, Palgrave Verlag 2012, gebunden, 247 Seiten, ca. CHF 95.– Die Leidensfähigkeit bildet einen Schwerpunkt in der Tierethik. Trotzdem gab es bisher keine umfassende Analyse der moralischen Bedeutung des Tierleidens, insbesondere was die normative Dimension anbelangt. Diese literarische Lücke will die finnische Philosophin Elisa Aaltola nun schliessen.

Zielpublikum

Animal Suffering: Philosophy and Culture ist Teil einer Tierethik-Reihe (zu der übrigens auch An Introduction to Animals and Political Theory gehört), die konzeptuelle und praktische Fragen der modernen Tierethik aufgreift. Als Zielgruppe gelten ausdrücklich Universitäten. Der klaren (englischen) Sprache sei Dank, ist für das Verständnis der Lektüre kein Philosophiestudium vonnöten.

Inhalt

Zu Beginn analysiert Aaltola die Natur des tierlichen Leidens und dessen gesellschaftliche Dimension. Im Gegensatz zur Schmerzempfindung würde das Leiden das ganze Wesen umfassen und andere wichtige Bedürfnisse übertönen. Bei Tieren in unserer Gesellschaft ist das „Wohlbefinden stark daran orientiert, was wir uns von der Tiernutzung erhoffen“ (S. 26). Tierschutzgesetze seien deshalb durch finanzielle Überlegungen und Nützlichkeitsdenken geprägt. Schlussendlich ist „Geld, nicht Wohlbefinden, der entscheidende Faktor“ (S. 30). Um das konkrete Tierleid in der Praxis zu diskutieren, schildert Aaltola die Mechanismen der sogenannten Nutztierhaltung. Dabei widmet sie sich sämtlichen Branchen, erwähnt aber auch die Zucht oder Genetic Engineering. Die Mensch-Tier-Beziehung sei erschreckend klinisch. „Onthologisch gesehen werden Tiere zu manipulierbaren Objekten, epistemologisch werden Menschen blind gegenüber dem tierlichen Standpunkt“ (S. 47). Nachdem Aaltola auf die beschreibenden Aspekte des tierlichen Leidens eingegangen ist, will sie nun die normativen Konsequenzen ziehen. Sie kritisiert die menschengemachten Kategorien – sogenannte Nutztiere, Zirkustiere, Versuchstiere uvm. – und sieht im Wandel „von diesen generischen Kategorien hin zu spezifischen, individuellen Wesen“ (S. 74) eine neue Herangehensweise zum moralischen Status der Tiere. Damit würde der (Mensch-Tier-)Dualismus konzeptionell verunmöglicht, hingegen das Mitgefühl für Tiere erlaubt. Doch diese Eigenschaft hat einen schweren Stand. AktivistInnen würden oft als sensibel, feminin oder naiv diffamiert – oder auch: „das Gegenteil von vernünftig“ (S. 94). Als nächstes betreibt die Autorin analytische Tierethik. Ein wichtiger Begriff ist „unnötiges Leiden“ (S. 98), der meist auf einen Interessenskonflikt hinauslaufe. Für viele FleischesserInnen sei Fleisch beispielsweise nötig für ihre kulinarische Befriedigung. Für Aaltola widerspricht diese Haltung jedoch der Forderung der Tierethik, wonach unnötiges Leiden vermieden werden muss: „Solange der Konsum von tierlichen Produkten Leiden erzeugt und nicht zum Überleben nötig ist, sollten Menschen darauf verzichten“ (S. 111). Die Konsequenzen wären freilich radikal und Veganismus die unausweichliche Lösung, so die Autorin. Problematischer wird es, wenn es um vitale menschliche Interessen geht, wie beispielsweise bei einigen Tierversuchen. Dürfen wir tausende Ratten opfern, um einige Menschen zu retten? Aaltola kritisiert die unter UtilitaristInnen üblichen Zahlenvergleiche, denn „das Leiden von einem Individuum ist genauso relevant wie das Leiden von fünf Individuen“ (S. 112). Leiden sei intrinsisch qualitativ, man könne es nicht quantifizieren. Gegenüber der analythischen Ethik hegt Aaltola ihre Zweifel und will sich stärker auf das Unmittelbare konzentrieren: Emotion, Empathie und Intersubjektivität. Durch die Emotion „kann man die Natur und Relevanz des Einzelnen verstehen“ (S. 157). Um die Emotionen sowie den Standpunkt anderer zu verstehen, braucht es hingegen Empathie, also „fühlen mit jemandem“ (S. 165). Hier brauche es noch Bildungsarbeit, da die Empathie durch soziale Nachahmung auch moralisches Lernen ermögliche. Auch Intersubjektivität bietet für die Autorin eine Möglichkeit, um tierliches Leiden besser zu verstehen. Insbesondere indem „wir es erlauben, uns auf Tiere einzulassen und mit jenen zu interagieren, denen die Gesellschaft mit Gewalt begegnet“ (S. 189). Im letzten Kapitel kommt Aaltola auf Aktivismus zu sprechen: „Wie können wir andere dazu motivieren, einen empathetischen Ansatz gegenüber nicht-menschlichem Leiden anzunehmen?“ (S. 198). Ein wichtiges Element sei die Überzeugungsarbeit. Gerade mit Emotion und Empathie könne anthropozentrische Weltansichten überwunden werden. Ferner schlägt die Autorin vor, Geschichten zu verwenden. Diese können fiktiv oder faktisch sein, Bild- oder Videomaterial beinhalten, und sollen „uns – unzensiert – das leidende Tier vor Augen führen“ (S. 201). Denn erst durch Konfrontation erwachse Mitgefühl.

Kommentar

Elisa Aaltola begreift in Animal Suffering: Philosophy and Culture Tiere nicht als abstrakte Entitäten, sondern als Teil unserer Gesellschaft. Folgerichtig widmet sie der ökonomisch motivierten Ausbeutung der sogenannten Nutztiere einen umfangreichen empirischen Abschnitt und scheut sich nicht, die normative Konsequenz zu benennen: eine vegane Lebensweise. Hervorzuheben im Vergleich zu anderen Publikationen ist auch Aaltolas Theoriekritik. Obwohl die Autorin eingesteht, dass Theorie durchaus ihre Berechtigung hat – auch in Bezug auf Aktivismus –, sorgt sie mit dem Fokus auf das Unmittelbare (Emotion, Empathie und Intersubjektivität) für frischen Wind. Auch wenn Aaltola sich selbst nicht etikettiert: der ökofeministische Einfluss ist unverkennbar. Etwas viel Platz räumt Aaltola dem skeptischen Standpunkt ein. Zweifelsohne: man kann sich nie sicher sein, wie sich Schmerzen und Leiden anderer anfühlt bzw. ob Schmerzen bei anderen Tieren tatsächlich eine moralisch relevante Qualität annehmen. Selbst die überaus industriefreundlichen Tierschutzgesetze verdeutlichen jedoch: heute zweifelt niemand mehr an der tierlichen Leidensfähigkeit. Insofern scheint das skeptische Kapitel primär der philosophischen Vollständigkeit halber geschrieben worden zu sein.

Fazit

Auch wenn die Lektüre kein Nasenwasser und ihr Kaufpreis skandalös hoch ist: Aaltolas empirischen Schilderungen, ihre konsequenten Forderungen und nicht zuletzt der ökofeministische Einfluss machen Animal Suffering: Philosophy and Culture zum tierethischen Geheimtipp.
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