«Die Tierschutzbewegung stilisierte einige Tiere als Kriegshelden»
Das deutsche Tierbefreiungsarchiv dokumentiert die Geschichte der Tierbewegungen. Tobias Sennhauser (TIF) sprach mit dem Historiker und Aktivisten Tom* Zimmermann über die Anfänge der deutschen Tierschutzbewegung sowie die Auswirkungen der zwei Weltkriege auf die Tiere.
Archiv
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TOBIAS SENNHAUSER: Ihr widmet euch aktuell dem Projekt «Von Gemüseheiligen und Vegan-Anarchist*innen». Worum geht’s?
TOM* ZIMMERMANN: Wir wollen die Geschichte der historischen Tierbewegung aufarbeiten. Wir haben auf verschiedensten Veranstaltungen der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung festgestellt, dass über die eigenen Wurzeln wenig bis gar kein Wissen vorhanden ist. Kürzlich las ich zum Beispiel in einer Social-Media-Diskussion, dass es an der Zeit wäre, in Deutschland offene Tierbefreiungen durchzuführen, da es so etwas noch nicht gegeben hätte. Dabei gibt es diese Aktionsform in Deutschland schon seit mindestens 1981. Aus den Erfahrungen anderer könnte gelernt werden. Mit diesem Projekt wollen wir perspektivische Möglichkeiten schaffen und dieser Geschichtsvergessenheit entgegenwirken.
Du verwendest den Begriff der «historischen Tierbewegung» (hTB). Was meinst du damit?
In Anlehnung an das Konzept «moderne Tierbewegung» des Philosophen Emil Franzinelli versuchen wir, ein Analysewerkzeug zu schaffen, womit verschiedene historische Bewegungen miteinander in Kontext gesetzt werden können. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist eine tierethische Motivation.
Zur historischen Tierbewegung (hTB) zählen wir die Tierschutz-, Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, aber auch die vegetarische und vegane Bewegung. Wir wollen kein harmonisches Bild der verschiedenen Zugänge konstruieren, sondern die unterschiedlichen Ideen, Theorien und Praktiken herausarbeiten.
Die hTB ist also lediglich ein Forschungswerkzeug und keine in der Vergangenheit existierende Bewegung. Wir erweitern die Forschung zu (neuen) sozialen Bewegungen mit einem tierethisch sensiblen Tool.
Nehmen wir also die verschiedenen Bewegungen der hTB genauer unter die Lupe. Beginnen wir mit dem Tierschutz. Die ersten deutschen Tierschutzvereine entstanden im 19. Jahrhundert. Welche Agenda verfolgten sie?
Die Tierschutzvereine des 19. Jahrhunderts setzten sich vor allem aus einem bürgerlichen Spektrum zusammen. Gründungsfiguren waren oft Anwälte, Ärzte oder höhere Beamte – also keineswegs Oppositionelle. Die meisten verfolgten einen anthropozentrischen Tierschutz. Sie fürchteten beim Anblick und Ausführung von Tierquälerei eine Verrohung des Menschen. Die Gewalt an Tieren, so die Befürchtung, richtet sich in der Folge auch gegen Menschen. Dementsprechend sollte Tierquälerei rechtlich sanktioniert und ihr mit Bildungsangeboten für Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene entgegengewirkt werden. Diese Argumentation und die personelle Zusammensetzung der Tierschutzvereine können auch als eine «Zivilisierung» unterer Klassen gedeutet werden.
Wie das?
In England wurde beispielsweise Tierschutz als Erziehung zum Humanismus argumentativ gegen Praktiken der Arbeiter*innenklasse eingesetzt oder in kolonialen Diskursen zur «Zivilisierung» der kolonisierten Menschengruppen herangezogen. Auch im deutschsprachigen Kulturraum dürfte Tierschutz in seiner Frühphase als soziales Differenzierungsmerkmal von oberen Klassen und Schichten herangezogen worden sein – dies bedarf allerdings noch weiterer Forschung.
Wie stand der anthropozentrische Tierschutz zum Tierkonsum?
Er befürwortete sowohl die Tierproduktion als auch das Essen getöteter Tiere. Nur die schlimmen, die als grausam oder tierquälerisch bezeichneten Formen der Schlachtung oder Tierhaltung wurden abgelehnt und bekämpft.
Zum Beispiel?
Bis ins 19. Jahrhundert war es üblich, arbeitsunfähige Pferde in einen See zu stellen, wo sie als Nahrung für beispielsweise Blutegel dienten. Diese Praxis wurde von Tierschützer*innen als tierquälerisch erkannt und die Reaktion – die heute ziemlich merkwürdig erscheint – war: In mehreren Städten veranstalteten Tierschutzvereine Bankette, auf denen als tierschützerische Massnahme Pferdefleisch gegessen wurde.
Im 20. Jahrhundert folgte der 1. Weltkrieg. Was bedeutete er für Tiere?
Die Situation vieler nichtmenschlicher Tiere änderte sich stark. Während die allgemeine Wirtschaft auf den Krieg ausgerichtet wurde, was selbstverständlich auch die Tierproduktion betraf, wurden einige Spezies zum Teil des Militärapparats gemacht. Das betraf vor allem Pferde und Hunde, aber auch Tauben oder Käfer. Pferde wurden von reitenden Einheiten genutzt oder sie mussten Gepäck, Material und Personen mit Wägen befördern. Hunde wurden für Botendienste missbraucht oder gar für das Aufspüren und Sprengen von Minen – was ihren Tod bedeutete.
Und Käfer?
Es gab Versuche mit Kartoffelkäfern, die auf feindlichen Feldern ausgesetzt wurden und die Ernte vernichten sollten. Damit sollte den Gegner*innen die Lebensmittelproduktion erschwert und der Nachschub mit Nahrungsmitteln unterbunden werden. Käfer waren also Teil militärischer Überlegungen, die die gegnerische Bevölkerung zermürben sollten.
Die instrumentalisierten Pferde und Hunde bezahlten ihren Einsatz nicht selten mit dem Tod. Was tat der Tierschutz während des Ersten Weltkriegs?
Die Tierschutzbewegung stilisierte – etwa in ihren Zeitschriften – einige Tiere als Kriegshelden. Ausserdem unterstützte sie das Militär, beispielsweise indem sie Decken für Pferde sammelte oder den sogenannten «Roten Halbmond» gründete, eine an das Internationale Rote Kreuz angelehnte Organisation zum Schutz von Kriegspferden. Um den Abtransport verletzter Pferde vom Schlachtfeld kümmerte sich ein gewisser Carl Kraemer, der später als «Vater des deutschen Tierschutzgesetzes» bekannt werden sollte. Er entwickelte einen Transportwagen für verletzte Pferde, der vom Militär genutzt wurde.
Das erste deutsche Tierschutzgesetz, das sogenannte Reichstierschutzgesetz, wurde 1933 durch die NSDAP verabschiedet. Wie kam es, dass sich die Nazis für Tiere einsetzten, während sie gleichzeitig zahlreiche Bevölkerungsgruppen massiv diskriminierten?
Die NSDAP packte nach der Machtergreifung rasch verschiedene populäre Themen an, wozu auch der Tierschutz gehörte. Es wurde eine Kommission zur Ausarbeitung eines reichseinheitlichen Gesetzes gegründet. Für die Tierschutzbewegung wurde der bereits erwähnte Carl Kraemer Teil dieses Gremiums. Daraus entstand im November 1933 das Reichstierschutzgesetz. Es gab jedoch bereits zuvor tierbezogene Gesetze durch die NSDAP.
Nämlich?
Beispielsweise wurde im April 1933 ein Gesetz über «das Schlachten warmblütiger Tiere» erlassen. Dieses schrieb eine Betäubung aller warmblütigen Tiere vor ihrer Schlachtung vor – ohne jegliche Ausnahme, auch nicht aus religiösen Gründen. Für viele Tierschützer*innen erfüllte sich eine jahrzehntealte Forderung. Faktisch wurde Jüd*innen damit die Ausführung eines religiösen Ritus, das sogenannte Schächten, verboten. Hier wurde also ein Tierschutzgesetz zur Diskriminierung genutzt.
Beim Tierschutz der Nazis ging es also nicht nur um Tiere?
Mitnichten. Mit der Einführung des Tierschutzgesetzes konnten sich Nazideutschland als eine zivilisierte Nation darstellen, was propagandistisch genutzt wurde: Zum einen wurde das Tierschutzgesetz im Dritten Reich für die internationale Propaganda genutzt. Hitler persönlich erhielt zum Beispiel für die Gesetzgebung mehrere positive Briefe von amerikanischen Tierschutzorganisationen. Zum anderen wurde Tierschutz antisemitisch genutzt, etwa durch das Verbot des religiösen Schächtens.
Jüd*innen wurden quasi zum doppelten Feindbild gemacht: Sie waren Feinde der Tiere, da sie diese unbetäubt schlachteten, und Feinde der Deutschen und aller anderen zivilisierten Völker, da Zivilisierte nie so mit Tieren umgehen würden.
Antisemitische Stimmen im Namen der Tiere – störte sich daran niemand?
Doch, es gab auch pazifistische, sozialistische oder internationalistische Akteur*innen, die Tierschutz mit Fragen menschlicher Emanzipation verknüpften. Darunter beispielsweise der «Bund für radikale Ethik», der von Magnus Schwantje gegründet wurde. Schwantje war glühender Pazifist und brachte die Fragen nach Gewalt gegen Tiere immer wieder in Zusammenhang mit zwischenmenschlicher Gewalt – jedoch nicht wie der anthropozentrische Tierschutz, sondern mit mehr Weitblick: Schwantje engagierte sich in sozialen Bewegungen und internationalen pazifistischen Netzwerken.
Ein weiteres Beispiel ist der «Internationale Sozialistische Kampfbund» (ISK), der vom Philosophen Leonard Nelson gegründet wurde. Der ISK war als Partei organisiert, trat aber nie zu einer Wahl an. Die Aufnahmebestimmungen des ISK waren an strenge moralische Verhaltensweisen gekoppelt: Beispielsweise durften die Mitglieder nicht rauchen und mussten vegetarisch leben.
Der «Bund für radikale Ethik» und der ISK hatten ihre Hochphase zwischen den beiden Weltkriegen. Beide versuchten die Tierfrage mit anderen Themen zu verknüpfen.
Was passierte mit den beiden Organisationen nach der Machtergreifung der Nazis?
Sie waren nicht mehr erwünscht. Der «Bund für radikale Ethik» wurde durch Schwantje aufgelöst. Nachdem er 1935 von der Gestapo vorgeladen wurde und aus noch ungeklärten Gründen von der Liste der nach Dachau zu Deportierenden gestrichen wurde, beschloss Schwantje in die Schweiz ins Exil zu gehen. Nach 1945 kehrte er nach Deutschland zurück und verstarb in den 1950er Jahren.
Und der ISK?
Dieser schien die Zeichen der Zeit besser gedeutet zu haben: Die Organisation hatte sich bereits vor 1933 darauf vorbereitet, im Untergrund widerständig tätig zu werden. Der ISK betrieb während der NS-Zeit in mehreren deutschen Städten vegetarische Restaurants, die wiederum eine wichtige Basis für die Widerstandsaktionen des ISK waren. Hier wurde Geld gesammelt und während der Mittagszeit konnten sich Mitglieder des ISK unauffällig organisieren.
Die Aktionen des ISK waren vielfältig und zum Teil spektakulär. So wurde die Eröffnung eines Autobahnabschnitts mit Adolf Hitler gestört: Die Aktivist*innen brachten mit Farbe, die erst bei Tageslicht sichtbar wurde, einen Anti-Nazi-Schriftzug auf der Fahrbahn auf. Das Stück konnte so natürlich nicht eröffnet werden.
⇒ Lies auch den zweiten Teil dieses Interviews: «Werft unsere Geschichte nicht weg!».
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