«Seen und Flüsse sollen ihre Rechte einklagen können»
Schweizer Gewässer sind stark belastet, doch bisher fehlt ihnen eine juristische Stimme. Markus Schärli fordert mit der Reuss-Initiative, dass Seen und Flüsse als eigenständige Rechtspersonen ihre Interessen vor Gericht vertreten und wirksam vor Verschmutzung geschützt werden können.
TOBIAS SENNHAUSER: Wie steht es aktuell um die Schweizer Gewässer – und im Besonderen um jene im Kanton Luzern?
MARKUS SCHÄRLI: Die Gewässer sind in einem schlechten Zustand. Schadstoffe, fehlende Biodiversität und strukturelle Eingriffe zerstören Lebensräume. Viele Fischarten sind bereits verschwunden. Es geht jedoch nicht nur um Umweltschäden, sondern auch um eine grundsätzliche Frage der Gerechtigkeit.
Der Verein Rechtsperson Reuss hat zusammen mit anderen Organisationen eine Volksinitiative für Grundrechte für Gewässer gestartet. Mit welchem Ziel?
Gewässer sollen eine eigene Rechtspersönlichkeit und Grundrechte erhalten. Heute sind Seen und Flüsse rechtlich schutzlos. Im Gegensatz zu Firmen oder natürlichen Personen können sie nicht klagen oder ihre Interessen vor Gericht vertreten.
Es gibt bereits ein Gewässerschutzgesetz. Warum reicht das nicht?
Gesetze wirken nur, wenn man sie auch durchsetzen kann. Wenn heute eine Firma illegal Schadstoffe einleitet, trägt das Gewässer den Schaden, während die Verantwortlichen oft mit lächerlich kleinen Bussen davonkommen. So leitete kürzlich ein Unternehmen verbotene Löschmittel in den Bodensee und musste nur 5000 Franken Busse zahlen. Der entstandene ökologische Schaden blieb dabei völlig unberücksichtigt.
Ohne Rechtspersönlichkeit bleibt das Gewässerschutzgesetz ein Papiertiger. Denn aktuell können Flüsse und Seen vor Gericht nicht selbst auftreten – sie gelten rechtlich als Sachen und nicht als Personen. Deshalb können sie ihre Rechte nicht einklagen. Genau das möchten wir ändern.
Was würde eure Initiative konkret ermöglichen?
Gewässer könnten zukünftig bei Schäden – wie der Verschmutzung der Reuss – selbst als Geschädigte auftreten, Schadenersatz einfordern und sich als Privatkläger am Verfahren beteiligen. So könnten sie die Untersuchungen mitgestalten und überwachen, was Staatsanwaltschaft und Behörden tun. Momentan ist das unmöglich.
Ein weiteres Beispiel aus dem Kanton Luzern: Immer wieder sterben Schweine qualvoll bei Stallbränden. Wären es Schulhäuser, wäre längst eingegriffen worden. Doch Tiere und Gewässer können heute ihre Interessen vor Gericht nicht vertreten. Unsere Initiative setzt bei den Gewässern an: Sie fordert ein, was die Philosophin Hannah Arendt als «das Recht auf Rechte» bezeichnete – das Recht, im Rechtssystem eine Stimme zu haben und eigene Rechte vertreten zu können.
Gewässer können nicht selbst vor Gericht auftreten. Wer vertritt ihre Interessen?
Die Interessen würden durch Gremien vertreten, die aus unabhängigen Fachleuten bestehen, etwa Hydrobiolog:innen oder Naturschutzingenieur:innen. Wichtig ist, dass die Vertretung unabhängig und fachkundig ist.
Sind Grundrechte für Gewässer mit Menschenrechten gleichzusetzen?
Nein, überhaupt nicht. Menschen haben viele verschiedene Grundrechte, die Gewässer nicht brauchen. Unsere Initiative beschränkt sich auf zwei zentrale Rechte: Existenz und ökologische Unversehrtheit. Es geht nicht darum, den Gewässern unpassende Rechte wie etwa das Heiratsrecht zu geben, sondern um ihre legitimen Bedürfnisse abzusichern. Ausserdem haben auch Firmen eine Rechtspersönlichkeit, obwohl sie keine Menschen sind.
Unternehmer:innen befürchten, eure Initiative könnte Bauprojekte erschweren. Wie reagierst du darauf?
Das sehe ich anders. Die meisten Verzögerungen entstehen durch Bürokratie, nicht weil Betroffene Rechte haben. Naturinteressen werden heute kaum berücksichtigt. Projekte scheitern oft an bürokratischen Details – wenn eine Mauer wenige Zentimeter zu gross ist, muss sie komplett abgerissen werden. Dass nun Naturinteressen vertreten werden, sehe ich nicht als Problem, sondern als längst überfälligen Schritt.
Gibt es internationale Vorbilder für eure Initiative?
Ja, beispielsweise der Mar Menor in Spanien oder der Whanganui River in Neuseeland. Beide wurden offiziell als eigenständige juristische Personen anerkannt. Anfangs belächelt, zeigen diese Initiativen heute, wie wirksam Grundrechte für Gewässer sind. Gerade am Mar Menor kämpfen Industrie und Landwirtschaft massiv gegen diese Naturrechte – ein klarer Beweis, dass sie Wirkung zeigen.
Zurück in den Kanton Luzern: Wie reagieren die Menschen auf der Strasse auf die Initiative?
Sehr positiv. Viele Menschen erkennen das Problem unserer unzureichend geschützten Gewässer und sehen unsere Initiative als sinnvolle Lösung. Auch Menschen, denen die Natur weniger am Herzen liegt, unterstützen die Initiative – aus Eigennutz, weil sauberes Wasser auch für Menschen lebensnotwendig ist. Gerade im Kanton Luzern, wo sich die stark belasteten Seen Baldegger- und Hallwilersee befinden, erkennen die Menschen sofort die Dringlichkeit.
Mitmachen und Gewässer schützen!
Die Reuss-Initiative kann von allen Schweizer:innen ab 18 Jahren unterzeichnet werden, die im Kanton Luzern wohnhaft sind. Die Unterschriftensammlung läuft bis zum 25. April 2026. Mindestens 5000 Unterschriften werden benötigt, damit die Initiative zur Abstimmung kommt. Den Unterschriftenbogen kannst du auf www.reuss-initiative.ch herunterladen und ausdrucken. Wer zusätzlich beim Sammeln helfen möchte, meldet sich unter: erhff@erhff-vavgvngvir.pu.
TIF unterstützt die Volksinitiative und fordert ihrerseits Grundrechte für die Aare.
Tier im Fokus (TIF) fordert in ihrer Theory of Change, dass auch Tiere zu Rechtspersönlichkeiten werden. Ist eure Initiative ein Schritt in diese Richtung?
Absolut, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ermöglicht unser Initiativtext, Biodiversität stärker einzubeziehen. Wenn unsere Initiative erfolgreich ist, entsteht eine rechtliche Grundlage, die vielen Tierarten einen starken rechtlichen Schutz gewährt. Zweitens machen wir die philosophische Frage salonfähig: Wer sollte überhaupt Rechte haben? Wenn Gewässer Rechte haben, ist es einfacher zu argumentieren, dass empfindungsfähige Lebewesen wie Tiere erst recht Rechte brauchen. Unser Ziel ist es, die Gesellschaft schrittweise an diesen Gedanken zu gewöhnen. Die Initiative ist also ein wichtiger Schritt für die Tierrechtsbewegung.
Über Markus Schärli
Markus Schärli ist Gründer und Präsident des Vereins «Rechtsperson Reuss», der dem Fluss Reuss Grundrechte und eine eigene Rechtspersönlichkeit verleihen will. Markus promovierte in Wirtschaft an der Universität Freiburg und studiert Recht an der Universität Luzern. Er arbeitete als Journalist, Kommunikationsspezialist in der Bankenbranche, Hochschuldozent und Gründer eines Online-Learning-Startups. Heute führt er eine Kommunikationsagentur.
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