19Nov 16
Interview
«Es ist höchste Zeit, Grundrechte allen Primaten zuzugestehen»
Im Kanton Basel-Stadt sollen alle Primaten Grundrechte erhalten. Das fordert eine Volksinitiative von «Sentience Politics», die demnächst eingereicht wird. Tobias Sennhauser (TIF) sprach mit Projektleiterin Meret Schneider über die Gründe und Folgen dieser Initiative.
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TOBIAS SENNHAUSER: Was macht Primaten so besonders, dass sie Grundrechte brauchen?
MERET SCHNEIDER: Einige Primaten haben bereits Grundrechte – wir Menschen. Meist ist man sich dessen nicht bewusst, aber auch wir Menschen gehören der Ordnung der Primaten an. Wir sind nicht-menschlichen Primaten viel ähnlicher als viele denken.
Inwiefern?
Menschenaffen sind in der Lage, sich an Vergangenes zu erinnern und zukünftige Ereignisse zu planen. Auch sind sie fähig, durch Anschauung zu lernen und sich selber in einem Spiegel zu erkennen.
Das gilt als Indikator für Selbstbewusstsein.
Genau. Primaten besitzen ein höheres Bewusstsein ihrer Selbst als menschliche Kleinkinder und sind diesen auch in Bezug auf Intelligenz überlegen. Es ist höchste Zeit, Grundrechte nicht mehr länger nur einer Primatenspezies zuzugestehen und alle anderen Primaten davon auszuschliessen.
Sollen Primaten also deswegen Grundrechte erhalten, weil sie uns so ähnlich sind?
Nein, wir begründen die geforderten Grundrechte für Primaten nicht darin, dass nicht-menschliche Primaten den menschlichen Primaten ähnlich sind – obwohl das natürlich zutrifft. Die Ähnlichkeit zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Primaten dient uns lediglich der Veranschaulichung, wie absurd die heutige Rechtslage ist.
Sentience Politics will den Speziesismus, also die Diskriminierung von Tieren, überwinden. In Ihrem Positionspapier begründen Sie Grundrechte für Primaten mit kognitiven Fähigkeiten wie der Fähigkeit in Zeichensprache zu kommunizieren oder dem Zukunftsbewusstsein. Birgt das nicht die Gefahr, typisch menschliche Eigenschaften als moralisch überlegen zu klassifizieren und damit den Speziesismus zu zementieren?
Keineswegs. Relevant für Grundrechte ist gerade nicht die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch. Vielmehr muss ein Individuum über die notwendigen Eigenschaften verfügen, damit die von uns geforderten Grundrechte überhaupt Sinn machen.
Von welchen Eigenschaften sprechen sie genau?
Von der Empfindungsfähigkeit. Wenn ein Lebewesen Schmerzen empfinden und leiden kann, gibt es keinen Grund, der dieses Leid rechtfertigen könnte, das wir Menschen Tieren in Tierversuchen oder auch in der industriellen Nutztierhaltung zufügen. Bei den Primaten ist dies umso mehr: Wegen ihrer Intelligenz und Reflexionsfähigkeit nehmen sie Schmerzen besonders intensiv und vielfältig wahr.
Bereits heute ist die Würde des Tieres – weltweit einzigartig – sowohl in der Verfassung als auch im Tierschutzgesetz verankert. Reicht das nicht?
Der Würde-Artikel ist leider rein symbolischer Art. Mit Grundrechten hat er wenig zu tun. Er gewährleistet weder das Recht auf Leben noch auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Heute sind massive Eingriffe möglich, wie Hirnläsionen oder Nahrungs- und Wasserentzug, um die Versuchstiere für gewisse Versuche zu «motivieren».
Angenommen, die Initiative würde angenommen. Wären Menschen und Menschenaffen dann gleich?
Nein, natürlich nicht. Die Rechte, die auf Menschen zutreffen, gehen ja massiv weiter als nur das Recht auf Leben und körperliche und geistige Unversehrtheit. Menschen haben beispielsweise auch ein Recht auf Bildung. Würden unsere Rechte auch für nichtmenschliche Primaten gelten, sässen wir womöglich bald mit Schimpansen in der Schule.
Uns geht es um einen weiteren Schritt auf dem Weg der Antidiskriminierung. Wenn es nicht in Ordnung ist, Individuen aufgrund anderer genetischer Merkmale wie Hautfarbe oder Geschlecht von Rechten auszuschliessen, warum sollten wir diese Rechte Individuen aufgrund ihrer Spezies aberkennen?
In Spanien wurde die Verleihung von Grundrechten an Primaten durch die katholische Kirche verhindert, die sich um die Sonderstellung des Menschen fürchtete. Von wem erwarten Sie den grössten Widerstand?
Vermutlich von BefürworterInnen biomedizinischer Primatenversuche. Zwar wären solche Versuche nach Annahme unserer Initiative noch immer möglich, jedoch müssten sie grundrechtskonform vonstatten gehen. Dies würde bedeuten, dass das Recht auf Leben und körperliche und geistige Unversehrtheit nicht tangiert werden darf. Primatenversuche, in denen die Individuen teils stundenlang reglos in eine Halterung eingebunden sind oder der Sozialkontakt unterbunden wird, wären nicht mehr möglich.
Welche Tierversuche wären dann noch möglich?
Zum Beispiel Verhaltensforschung oder nicht-invasive Experimente, wie wir sie heute auch mit Kleinkindern durchführen: Wie lange widersteht das Kind einer Süssigkeit mit der Aussicht, wenn es sie nicht isst, nach dem Experiment zwei davon zu kriegen? Oder wie lange haben Kinder unterschiedlichen Alters für das Lösen eines Rätsels?
Als 2006 die Zürcher Tierversuchskommission zwei Versuche an Rhesusaffen gestoppt hatte, wanderte ein Forscher vorsorglich mit seinen Affen nach Deutschland ab. Schwächt Ihre Initiative den Forschungsstandort Schweiz?
Gegenfrage: Wenn neuerdings in Nachbarländern invasive Versuche an schwerbehinderten Menschen zugelassen würden, würden wir sie hierzulande auch tolerieren, um den Forschungsstandort Schweiz nicht zu schwächen? Es geht darum, dass die Interessen der Primaten jener der Menschen äquivalent sind und auch so gewichtet werden sollen. Eine solche Güterabwägung darf also nicht stattfinden. Zudem kann es auch eine grosse Chance für den Forschungsstandort Schweiz bedeuten.
Inwiefern?
Unsere Initiative hätte zur Folge, dass massiv mehr in die Erforschung von Alternativen wie «organ on a chip» oder «CRISPR» investiert würde. Damit könnte sich die Schweiz als Pionierin im Bereich Alternativmethoden zu Tierversuchen etablieren. Das würde wieder Forschende aus dem Ausland anziehen. Schliesslich forschen sie auch nicht aus Sadismus an Primaten.
Auch der Basler Zoo wäre von der Initiative betroffen. Dort spielt sich im Namen des Artenschutzes ein penibel durchdachtes, von Menschen gemachtes System der Reproduktion ab. Sind diese Eingriffe in die Sexualität mit dem Recht auf physische Integrität kompatibel?
Zoohaltung ist nach Annahme unserer Initiative grundsätzlich möglich, sofern der Zoo sicherstellen kann, dass die Grundrechte auf Leben und auf Integrität garantiert wird. Dies kann bedeuten, dass gewisse der heutigen Praktiken nicht mehr zulässig sein werden. Dies müsste jedoch ein Gericht entscheiden, welches die von uns geforderte Verfassungsbestimmung zu interpretieren haben wird.
Moralische Rechte für Menschenaffen wurden erstmals 1993 breit diskutiert. Damals forderten die PhilosophInnen Paola Cavalieri und Peter Singer im Rahmen des Great Ape Projects (GAP) gewisse Grundrechte. Anders als in der «Deklaration über die Großen Menschenaffen» von einst beinhaltet Ihre Initiative kein Recht auf Freiheit. Wieso nicht?
Wir wollten uns in unserer Initiative auf diejenigen Punkte konzentrieren, die am wenigsten umstritten sind. Zudem lassen sich die Grundrechte auf Leben und Integrität einfach am besten vermitteln. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir gegen ein Recht auf Freiheit sind.
Sie sammelten selbst Unterschriften auf der Strasse. Wie haben die Leute reagiert?
Enorm positiv. Viele dachten, Primatenversuche seien in der Schweiz verboten. Ich führte auch viele allgemeine Debatten über Grundrechte. Ich freue mich bereits jetzt auf den Abstimmungskampf!
Neben ihrer Arbeit für «Sentience Politics» politisiert Meret Schneider für die Grünen im Gemeinderat von Uster (ZH) sowie als Präsidentin der Jungen Grünen Zürich.
Weitere Materialien zum Thema
- Paola Cavalieri & Peter Singer (Hrsg.), Deklaration der Menschenrechte für die Grossen Menschenaffen, München 1994 (engl. Original 1993)
- Der Schimpanse (Pan troglodytes), Tierporträt von tier-im-fokus.ch (TIF)
- Der Zoo – Ein Blick hinter die Kulissen, Artikel von Tobias Sennhauser
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