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Interview

„Fleisch ist unnötig“

Fleischkonsum verursache unnötiges Tierleid. Der Mensch hat Fleisch nämlich gar nicht nötig. Zudem ist die Herstellung von Fleischprodukten ökologisch gesehen ein Disaster, so Klaus Petrus (tif) im Gespräch mit Seraina Capol.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Seraina Capol im Gespräch mit Klaus Petrus [1]

SERAINA CAPOL: Wieso essen Menschen Fleisch?
KLAUS PETRUS: Ich nehme an, weil wir es mögen. Oder aus Gewohnheit. Oder weil wir denken, der Mensch brauche unbedingt Fleisch. Und alles andere sei gegen seine Natur. Was allerdings nicht zutrifft, schliesslich leben wir nicht mehr im Neolithikum. Heute ernähren sich Millionen von Menschen ohne Fleischprodukte und leben offenbar gesünder als die Durchschnittsbevölkerung.

Zudem war Fleisch lange Zeit ein Statussymbol – und ist es irgendwie geblieben. Manche AnthropologInnen meinen sogar, dass sich im Fleischkonsum – sozusagen unbewusst – die Dominanz des Menschen gegenüber anderen Tieren ausdrückt. Dass Fleisch stark macht (und alles andere Beilage ist), gehört auch heute noch zu den Slogans der übermächtigen Fleischindustrie. Die gesundheitlichen Folgen werden dabei mehrheitlich ausgeblendet.

Zum Beispiel?
Schon vor Jahren haben die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Welternährungsorganisation (FAO) darauf hingewiesen, dass die Häufigkeit von Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, Magen- und Darmkrebs mit der starken Zunahme fettreicher Tierprodukte zusammenhängt. Damit sind vor allem Fleischwaren, aber auch Milch- und Eiprodukte gemeint.

Umgekehrt haben Studien nachgewiesen, dass eine gut geplante und ausgewogene pflanzliche Ernährung unserer Gesundheit zuträglich ist und das Risiko für Zivilisationskrankheiten verringern kann. Diese Erkenntnisse wurden seitdem durch viele Untersuchungen bestätigt. Leider gelangen sie nur selten an die breite Öffentlichkeit.

Was könnte Menschen davon überzeugen, auf Fleisch zu verzichten?
Wir – und damit meine ich die meisten Menschen aus sogenannten Industrieländern – sind auf Fleisch gar nicht angewiesen. Fleisch ist unnötig. Stellt man zudem in Rechnung, dass sich der Fleischkonsum auf unsere Gesundheit negativ auswirken kann, müsste das bereits ein guter Grund sein, darauf zu verzichten. Wenn Fleischprodukte für uns nicht lebenswichtig sind und wenn sie zudem unsere Gesundheit gefährden, ist es dann nicht unvernünftig, sie weiterhin zu konsumieren?

Viele, die auf Fleisch verzichten, tun dies aber aus ethischen Gründen…
Ja. Die meisten von uns sind der Ansicht, dass Tiere keine Sachen sind, sondern Lebewesen mit Empfindungen, Bedürfnissen und Gefühlen – und dass es falsch ist, ihr Wohlbefinden unnötigerweise zu beeinträchtigen. So steht es übrigens auch in unserem Tierschutzgesetz: „Niemand darf ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, es in Angst versetzen oder in anderer Weise seine Würde verletzen.“ Mir scheint, dieser Grundsatz charakterisiert recht gut unsere gegenwärtige „Alltagsmoral“ im Umgang mit Tieren: Wenn überhaupt, sollten Tiere nur dann leiden müssen, wenn dies auch wirklich „nötig“ ist. So denken die meisten von uns.

Nun dürfte allerdings auch unbestritten sein, dass die Herstellung tierlicher Produkte mit einer zum Teil massiven Beeinträchtigung des Wohlbefindens von „Nutztieren“ verbunden ist: Schweine werden ihr Leben lang in engen Buchten gehalten, Aufstehen und Niederlegen sind die einzigen Bewegungen, die diese äusserst aktiven und sozialen Tiere ausführen können. Legehennen sind darauf „getrimmt“, 300 Eier pro Jahr zu produzieren. Auf jede Legehenne kommt ein männliches Küken, das für die Fleischproduktion nicht geeignet ist und deswegen nach dem Schlüpfen vergast oder vermust wird. Allein in der Schweiz sind das über zwei Millionen pro Jahr. Milchkühe geben nur dann ständig Milch, wenn sie ständig künstlich besamt werden und Kälber gebären, die ihnen schon wenige Tage nach der Geburt weggenommen werden. Übrigens können Kühe 20 und mehr Jahre alt werden, in der Regel haben sie aber nach fünf Jahren ausgedient und werden „entsorgt“.

Die Liste solcher Eingriffe in das Wohlbefinden und Leben dieser empfindungsfähigen Wesen ist lang – sehr lang. Und die einzige Rechtfertigung, die wir dafür haben, ist die Tatsache, dass wir uns von tierlichen Produkten ernähren möchten.

Aus ethischer Sicht lautet die entscheidende Frage nun: Ist das wirklich ein guter Grund? Ist es „nötig“, dass wir tierliche Produkte konsumieren? Oder wird damit das Wohlbefinden der Tiere „unnötigerweise“ beeinträchtigt?

Wie zuvor angedeutet, gibt es etliche Gründe, die dafür sprechen, dass es für die meisten von uns gar nicht „nötig“ im Sinne von „lebensnotwendig“ ist, dass wir Fleisch essen oder Milch- und Eiprodukte konsumieren. Dann aber wäre der Konsum tierlicher Produkte moralisch gesehen nicht gerechtfertigt – vorausgesetzt, wir vertreten tatsächlich die Auffassung, dass es falsch ist, das Wohlbefinden der Tiere unnötigerweise zu beeinträchtigen.

Essen wir Menschen vielleicht auch deswegen Fleisch, weil wir uns über die Tiere stellen oder weil wir ihnen keine Rechte einräumen?
Das mag gut sein. Hätten Tiere grundlegende Rechte – so beispielsweise das Recht auf Leben, Freiheit und Unversehrtheit –, so dürften wir sie wohl kaum für unsere Zwecke züchten, mästen, ein Leben lang einsperren, schlachten, verzehren oder zu allerlei Gebrauchsartikeln verarbeiten. Oder an ihnen experimentieren, sie im Zoo ausstellen oder in der Manege herumführen. Wir würden damit zum Ausdruck geben, dass Tiere für sich genommen wertvoll sind und dass es den Wert der Tiere zu respektieren gilt.

Oder anders gesagt: Hätten Tiere grundlegende Rechte, so dürfte sich ihr Wert nicht auf den Nutzen und Vorteil reduzieren, den wir Menschen aus ihnen ziehen – sei es aus Gründen der Ernährung, der Forschung oder nur schon zum Zwecke der Unterhaltung.

Nun gibt es Tierschutzgesetze, aber grundlegende Rechte haben Tiere nicht…
Das ist richtig. Seit gut vier Jahrzehnten setzt sich die „Tierrechtsbewegung“ dafür ein, dass Tiere solche Rechte erhalten. Umgesetzt wurde diese Forderung aber bisher nicht. Und es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis das der Fall ist. Denn wir gehen immer noch wie selbstverständlich davon aus, dass Tiere für uns Menschen da sind. Irgendwie ist das tief in uns drin: Tiere gehören nicht sich selbst, sie gehören uns!

Diese Haltung zeigt sich im Übrigen auch in der Stellung der Tiere vor dem Gesetz. Zwar sind sie in vielen Ländern (so auch in der Schweiz) keine Sachen mehr. Doch sind Tiere nach wie vor das Eigentum der Menschen. Und das bedeutet nebst anderem, dass wir in den Schranken der Gesetze frei über sie verfügen dürfen. Weil Tiere unser Eigentum sind, dürfen wir sie kaufen, verkaufen, verschenken, mit ihnen Experimente durchführen, sie züchten, mästen, schlachten, aufessen und vieles andere mehr. Das ist ein Punkt, den TierrechtlerInnen wie beispielsweise Gary L. Francione seit einiger Zeit anbringen.

So gesehen stimme ich Ihnen zu: Als Eigentümer steht der Mensch klar über dem Tier, seinem Eigentum. Hätten Tiere grundlegende Rechte, würde dies miteinschliessen, dass wir sie nicht weiter als Eigentum behandeln dürfen.

Gibt es einen Unterschied, ob man Fleisch aus Genuss isst oder ob man sich in einer Notlage befindet?
Ich denke schon. In der Tierethik macht man einen Unterschied zwischen „trivalen Interessen“ und „vitalen Interessen“. Vitale Interessen sind solche, die das eigene Überleben betreffen. Triviale Interesse sind hingegen Interessen, die auf Genuss, Gewohnheit oder Bequemlichkeit beruhen.

Wenn es nun um eine Güterabwägung von Interessen unterschiedlicher Lebewesen geht, gelten nach dieser Theorie – ganz grob gesagt – folgende Prinzipien: Triviale Interessen dürfen nicht über vitale Interessen gestellt werden! Und: Wo sich gleichermassen vitale Interessen gegenüberstehen und es keine Alternativen gibt, entscheidet der Stärkere (oder das Glück)!

Nach dieser Unterscheidung handelt es sich beim Fleischkonsum aus Genuss typischerweise um ein triviales Interesse des Menschen. Dieses Interesse steht einem unbestritten vitalen Interesse eines Tieres gegenüber; schliesslich geht es bei ihm ums Überleben. Und also dürfte der Mensch sein (triviales) Interesse nicht über das (vitale) Interesse des Tieres stellen.

Wenn Sie mit „Notlage“ meinen, dass wir uns in einer Situation befinden, in der unser Überleben auf dem Spiel steht und wir ansonsten verhungern, wären wir grundsätzlich berechtigt, ein Tier zu töten und aufzuessen. Die aus moralischer Sicht entscheidende Frage lautet: Handelt es sich dabei um ein vitales Interesse? Und: Haben wir keine Alternative?

Sie haben bisher gesundheitliche und vor allem ethische Gründe gegen den Fleischkonsum angesprochen. Gibt es noch andere Argumente?
Ja, zum Beispiel ökologische. Immer öfter ist zu lesen, dass die Nutztierhaltung mit erheblichen Umweltproblemen behaftet ist. Die schon erwähnte Welternährungsorganisation (FAO) geht in einer Untersuchung aus dem Jahre 2006 davon aus, dass 18 Prozent der vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen aufs Konto der Viehhaltung gehen. Das ist mehr, als die Industrie oder der weltweite Transport zu Lande verursacht. In einer neuen Studie des WorldWatch Institute ist sogar von 51 Prozent die Rede.

Welches sind konkret die ökologischen Folgen der Nutztierhaltung?
Als besonders problematisch gilt Methan, ein Gas, das um ein Vielfaches schädlicher ist als CO2 und bei der Verdauung von Wiederkäuern entsteht. Aber auch die grossen Mengen an Gülle und die damit einhergehenden Emissionen von Ammoniak, die in Massentierhaltungen anfallen, machen zu schaffen.

Darüber hinaus handelt es sich bei der Herstellung tierlicher Produkte um ein ziemlich ineffizientes Unterfangen. Um das bekannteste Beispiel zu nennen: Damit Rinder Fleisch ansetzen, müssen sie mit Getreide oder Soja gefüttert werden. Diese Nahrung wird aber nur teilweise in Muskelmasse und Fett angelegt. Einen Grossteil der Nahrungsenergie benötigen die Tiere für ihren eigenen Stoffwechsel. Aus diesem Grund braucht es ein Vielfaches an pflanzlichen Nahrungsmitteln, um letztlich das erwünschte, tierliche Produkt zu gewinnen.

Konkret werden (je nach Tierart) 7 bis 16 kg Getreide oder Soja benötigt, um 1 Kilogramm Fleisch zu produzieren. Dabei gehen 80 Prozent des pflanzlichen Proteins, über 90 Prozent der Kohlenhydrate und fast 100 Prozent der Ballaststoffe verloren. Das ist ein massiver Verschleiss, der in der Fachsprache etwas beschönigend Veredelungsverlust genannt wird.

Übrigens: Wir reden hier nicht von Nahrungsmitteln, die einzig von Nutztieren verwertet werden können, sondern vor allem von Soja. Soja ist die Königin der Hülsenfrüchte, sie ist äusserst proteinreich, enthält als einzige alle acht essenziellen Aminosäuren und ist reich an mehrfach ungesättigten Fettsäuren wie die auch für den Menschen wichtige Linolsäure. Soja ist aber in erster Linie für Nutztiere da. Nach konservativen Schätzungen werden vier Fünftel der weltweiten Sojaernte zu Futtermitteln verarbeitet.

In diesem Zusammenhang ist oft von der Vernichtung des Regenwaldes die Rede.
Das hängt damit zusammen. Die Viehwirtschaft braucht enorm viel Land, sowohl für Weideflächen als auch für den Anbau von Futterpflanzen. Verschiedene Studien haben errechnet, dass sich auf einer Fläche, die nötig ist, um ein Kilogramm Fleisch zu produzieren, im gleichen Zeitraum 160 Kilogramm Kartoffeln oder 200 Kilogramm Tomaten ernten lassen.

Häufig müssen diese Weide- und Anbauflächen erst noch „gewonnen“ werden. Die von Ihnen angesprochene Rodung des Regenwaldes ist dafür das bekannteste Beispiel. Vandana Shiva, Trägerin des Alternativen Nobelpreises und AktivistIn, bringt das Problem auf den Punkt: „Millionen von Hektar Regenwald gehen in Flammen auf, um billiges Futter für die Rinderzucht zu produzieren!“

Ähnlich alarmierend sind übrigens die Zahlen über den Wasserverbrauch in der Nutztierhaltung – vor allem, wenn man den gesamten Produktionsprozess „von der Weide bis auf den Teller“ in den Blick nimmt. Dann geht es nämlich nicht bloss um das Trinkwasser der Tiere, sondern vor allem auch um die Wassermenge, die erforderlich ist, um Futtermittel anzupflanzen.

Es gibt Untersuchungen, denen zufolge für die Herstellung von einem einzigen Kilogramm Rindfleisch rund 15.000 Liter Wasser benötigt werden; für ein Kilogramm Kartoffeln werden dagegen ‚bloss’ 900 Liter verwendet.

Diese Zahlen über den Wasserverbrauch sowie die Tatsache, dass 80 Prozent der weltweiten Sojaproduktion in den Mägen von Nutztieren landen, die dann zu Fleisch verarbeitet werden, stimmen bedenklich: Wir leben in einer Welt, in der rund eine Milliarde Menschen hungern und 1.2 Milliarden an Wassermangel leiden müssen.

Wer ökologisch denkt, sollte also auf Fleisch verzichten?
Alles deutet darauf hin: Tierliche Produkte haben insgesamt eine signifikant schlechtere Ökobilanz als pflanzliche Nahrungsmittel – im Übrigen gilt dies vor allem für Milchprodukte. Das bestätigen auch Studien, die unterschiedliche Ernährungsstile miteinander vergleichen: Eine Umstellung auf pflanzliche Lebensmittel ist mit einer hohen Einsparung klimaschädlicher Faktoren verbunden.

Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen: Ernährung ist nur eine klimawirksame Komponente unter anderen. Wenn Sie im März Äpfel kaufen, die im Winter im Kühlhaus gelagert wurden, wenn Sie Mangos konsumieren, die per Flugzeug aus Indien importiert werden, oder wenn Sie jedes Mal ihr Auto benutzen, um im Warenhaus oder auf dem Markt Obst und Gemüse einzukaufen, kann sich die Klimabilanz pflanzlicher Lebensmittel dadurch massiv verschlechtern.

Kehren wir zur Ethik des Fleischkonsums zurück. Macht es einen moralischen Unterschied, ob wir Nutztiere oder Haustiere verzehren?
Das kommt auf die Moral an. Es gibt Leute, die der Auffassung sind, dass unsere moralische Verpflichtungen gegenüber Lebewesen davon abhängen, wie nahe sie uns stehen. Salopp gesagt: Je enger die Beziehung, desto stärker die Pflichten.

Psychologisch gesehen leuchtet dieser Standpunkt ein. Nehmen wir an, wir müssten uns in einer extremen Situation entscheiden, ob wir einen Fremden oder einen uns eng vertrauten Menschen (den Ehepartner, die Schwester oder den besten Freund) retten wollen: Für wen würden wir uns entscheiden? Und weshalb?

Wenn wir diesen ethischen Standpunkt auf unsere Beziehung zu Tieren ausweiten, so könnte man durchaus behaupten, dass es einen moralischen Unterschied macht, ob wir Nutz- oder Haustiere verspeisen. Und zwar deshalb, weil uns Haustiere (in aller Regel) sehr viel näher stehen als Nutztiere. Und aus dieser Nähe ergeben sich dann eben besondere Verpflichtungen, die beispielsweise ausschliessen, dass wir dem eigenen Hund einen Bolzenschuss verabreichen, ihn ausnehmen und zu Ragout verarbeiten.

Wie gesagt, psychologisch ist diese Haltung verständlich. Es gibt viele Menschen, die eine sehr ausgeprägte Form der Fürsorge für ihre Haustiere haben. Manchmal nehmen sie sogar die Rolle von „Ersatzmenschen“ ein. Der Anthropologe Nick Fiddes schrieb einmal, dass Haustiere das „Nächstbessere“ des Menschen seien: sie zu verspeisen, würde das Kanibalismustabu verletzen. Ich denke, das hat etwas.

So oder so betrachten wir Haustiere – weil wir ihnen nahe stehen – als Individuen, als Subjekte mit ganz persönlichen Empfindungen, Gefühlen und Bedürfnissen. Dagegen sehen wir in Hühnern, Rindern oder Schweinen oft nur eine anonyme Fleischmasse. Nutztiere sind für uns nicht jemand, sie sind etwas.

Das scheint aber von Kultur zu Kultur verschieden zu sein…
Ja, was die einzelnen Tiere oder Tierarten angeht. In einigen Teilen Asiens sind Hunde Delikatessen und werden entsprechend aufwändig zubereitet. Für uns EuropäerInnen mag das geschmacklos sein. Umgekehrt verzehren wir buchstäblich ohne Gewissensbisse die Kinder von Tieren, die in Indien als heilig gelten.

Welches Tier schlussendlich im Teller landet und wieso, ist eine vielschichtige Frage. Sie zeigt, dass Kategorien wie „Haustiere“ oder „Nutztiere“ in erster Linie Funktionen bezeichnen, die Tiere für uns Menschen erfüllen sollen. Mit den Tieren selbst – ich meine: mit den einzelnen Lebewesen – hat das nur beschränkt zu tun. Beispielsweise können Kaninchen für den Menschen ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen: Für einige sind sie Kuscheltiere; für andere sind sie die züchterische Herausforderung schlechthin; wieder andere lassen sie im Zirkus auftreten; manche gebrauchen sie als Versuchstiere; einige als Pelztiere; und für viele sind sie bloss ein weiterer Fleischlieferant.

Im Allgemeinen denke ich aber, dass wir einige Tiere auch deshalb anders – und im Schnitt: besser – behandeln als andere, weil sie uns näher stehen. Und diese Tiere fallen dann eben in die Kategorie der „Haustiere“ (oder „Heimtiere“, wie sie vor dem Gesetz eigentlich heissen), die anderen aber in die Rubrik der „Nutztiere“. Oder sie werden als „Raubtiere“, „Ungeziefer“ usf. bezeichnet.

Gibt es Einwände gegen eine moralische Sonderbehandlung von Haustieren?
Mir scheint, die grundlegende Frage lautet: Soll die Nähe zu einem Lebewesen darüber entscheiden, ob wir es so oder anders behandeln dürfen? Wollen wir eine Ethik im Umgang mit Lebewesen, die ausschliesslich auf persönlichen Beziehungen beruht, aus denen sich dann unsere moralischen Verpflichtungen ergeben?

Angenommen, meine Beziehung zu einem Lebewesen nimmt plötzlich ab oder löst sich sogar ganz auf. Würde das bedeuten, dass sich damit auch meine moralische Verantwortung ihm gegenüber aufhebt? Das ist eine schwierige Frage. In Bezug auf Haustiere scheint dem zumindest in gewissen Fällen so zu sein. Nicht wenige von ihnen werden zunächst verhätschelt, dann verschenkt oder ins Tierheim abgeschoben oder ausgesetzt.

Aus diesem Grund sind einige TierethikerInnen der Auffassung, dass die Frage, wie wir mit Lebewesen umgehen sollten, nicht von unseren persönlichen Beziehungen abhängen darf, sondern von objektiven Merkmalen, über die diese Lebewesen verfügen. Das klingt kompliziert, der Gedanke dahinter ist aber recht einfach.

Was hat ein Hund oder eine Katze, das ein Schwein oder Huhn nicht hat? Sie alle sind empfindungsfähige Wesen, die Wahrnehmungen haben, Bedürfnisse, Gefühle sowie die Fähigkeit, Lust und Leid zu erleben. Wenn wir die Ansicht vertreten, dass es für unseren moralischen Umgang mit einem Lebewesen entscheidend ist, ob es sich dabei um ein empfindungsfähiges Wesen handelt, so gibt es keinen Grund mehr, Haustiere gegenüber Nutztieren zu bevorzugen. Denn die moralisch relevante Frage würde dann nicht lauten: „Welches Tier steht mir persönlich näher?“, sondern: „Handelt es sich dabei um ein empfindungsfähiges Wesen?“

Damit soll nicht bestritten werden, dass die Nähe zu einem Tier die Grundlage sein kann für eine spezielle Form der moralischen Verantwortung, die wir ihm gegenüber aufbringen. Der Punkt ist vielmehr, dass persönliche Beziehungen allein nicht darüber entscheiden sollten, ob wir manche Tiere umsorgen, verhätscheln oder als „Ersatzmenschen“ behandeln, andere dagegen ein Leben lang einsperren, mästen, schlachten und aufessen.

Nach allem, was Sie jetzt ausgeführt haben: Kann ich überhaupt noch behaupten, ein Tierfreund zu sein, wenn ich Fleisch esse?
Es gibt bekanntlich Leute, die haben Tiere zum Fressen gern. Andere sagen: Tiere sind meine Freunde, und meine Freunde esse ich nicht.

Wenn Tiere für Sie empfindungsfähige Wesen sind, und wenn Sie davon überzeugt sind, dass es moralisch falsch ist, das Wohlbefinden empfindungsfähiger Wesen unnötigerweise zu beeinträchtigen, dann scheint mir das ein guter Grund zu sein, das eigene Konsumverhalten zu ändern – zumal die meisten von uns auf tierliche Nahrungsmittel gar nicht angewiesen sind, diese Produkte unsere Gesundheit gefährden können und auch in ökologischer Hinsicht immer längere Schatten werfen.

[1] Das Interview ist erschienen in Seraina Capol: „Tierethik. Kann ich es mit meiner Moral vereinbaren, als Tierfreundin Fleisch zu essen?“, Abschlussarbeit FMS Bern, Dezember 2009.

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1 Kommentar

Ship
vor 14 Jahre

Sehr gutes Interview.

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