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Interview

„Die meisten Menschen sind gegen Gewalt“

Essen gilt nach wie vor als Privatsache: was auf den Teller kommt ist eine persönliche Entscheidung, die keiner externen Autorität bedarf. Trotzdem muss die Ernährung zum Politikum werden, findet Sebastian Leugger von Sentience Politics. Tobias Sennhauser von tier-im-fokus.ch (TIF) hat mit ihm gesprochen.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Essen gilt nach wie vor als Privatsache: was auf den Teller kommt ist eine persönliche Entscheidung, die keiner externen Autorität bedarf. Trotzdem muss die Ernährung zum Politikum werden, findet Sebastian Leugger von Sentience Politics. Tobias Sennhauser von tier-im-fokus.ch (TIF) hat mit ihm gesprochen.

Tobias Sennhauser: Wann hast du zum letzten Mal auswärts gegessen?
Sebastian Leugger: Das war am Geburtstag meiner Grossmutter in einem chinesischen Restaurant. Es gab verschiedene frittierte Gemüse und Tofu mit süss-saurer Sauce.

Du arbeitest im Moment viel für Sentience Politics, kurz Sentience. Bevor wir auf euer Anliegen zu sprechen kommen: Wer oder was steckt eigentlich dahinter?
Sentience ist ein Projekt der GBS Schweiz. Das ist ein Verein und als solcher eine Regionalgruppe der deutschen Giordano Bruno Stiftung (GBS). Wir sind ein Thinktank, der sich mit Rationalität, Ethik und Wissenschaft beschäftigt. Und wir möchten Einfluss auf die Politik nehmen.

Mit welcher Absicht?
Sentience will erreichen, dass in der Politik über Ernährung geredet wird. Wir konsumieren zu viele Tierprodukte. Das hat negative Auswirkungen auf die Umwelt, die Versorgungssicherheit hier, die Versorgungssicherheit im Weltsüden, den Klimawandel und natürlich auch auf die Tiere. Diese Zusammenhänge sind oder werden allmählich zum Allgemeinwissen. Es ist Zeit, dass die Politik das ernst nimmt.

Laut Sentience sollen alle öffentlichen Kantinen ein veganes Menü anbieten, und KöchInnen entsprechend aus- oder weitergebildet werden. Was wollt ihr damit bewirken?
Der unmittelbare Zweck dieses Vorschlags ist, dass möglichst viele Leute, die dafür offen sind, einen leichten Zugang zu pflanzlichen Gerichten erhalten – und das auf einem guten kulinarischen Niveau. Wer mit der pflanzlichen Küche gute Erfahrungen macht, ist auch eher bereit, sich kritisch mit dem Konsum von Fleisch, Milch und Eiern auseinanderzusetzen. Das ist es, was wir letztlich wollen: diese kritische Auseinandersetzung anregen.

In eurem Positionspapier Nachhaltige Ernährung 2020 verfolgt ihr einen klar rationalen Ansatz. Da schimmert die Giordano Bruno Stiftung (GBS), die Sentience als Projekt lancierte, durch. Hast du ein Beispiel, das dieses rationale Vorgehen verdeutlicht?
Stimmt, Rationalität hat in der GBS einen hohen Stellenwert. Es geht darum, dass man nicht willkürlich mit dem Denken aufhört, nur weil es vielleicht mühsam oder heikel wird, oder weil etwas daraus folgen könnte, das einem auf den ersten Blick nicht gefällt.

Ein Beispiel ist die Ernährung. Wissenschaftlich besteht ein breiter Konsens, dass der Einfluss der Ernährung auf das Klima ähnlich gross ist wie jener des Verkehrs oder des Wohnens. Über Verkehr und Wohnen wird in der Politik ausgiebig diskutiert. Über die Ernährung nicht, weil… Ja, warum eigentlich? Es gibt keinen rationalen Grund, warum die Ernährung ein politisches Tabu sein sollte.

Nicht rational sind oft auch die Reaktionen auf Sentience. Viele sehen ihre kulinarische Wahlfreiheit bedroht – und das obwohl ihr das Menüangebot nicht einschränken, sondern im Gegenteil erweitern wollt. Wie erklärst du dir dieses Verhaltensmuster?
Ich glaube, das kommt daher, dass die Leute nicht auf das reagieren, was wir tatsächlich vorschlagen, sondern auf etwas, von dem sie bloss denken, dass wir es vorschlagen. Bevor wir an die Medien gingen, schrieben wir PolitikerInnen und Parteien an. Als Antwort kam hin und wieder zurück: „Wir sind gegen Verbote. Das unterstützen wir nicht.“ Wenn man sich aber unseren Text anschaut, ist da nicht von Verboten die Rede.

Kann es sein, dass die Leute noch die Debatte über die Vegi-Mensa in Basel im Kopf haben?
Ja, das kann sein. Damals wurde eine fleischfreie Mensa gefordert, was als Fleischverbot gedeutet wurde. Unser Vorschlag – ein veganes Menü, wo es mehrere Menüs zur Auswahl gibt – ist aber beim besten Willen kein Verbot. Es ist, wie du sagst, eine Erweiterung des Angebots.

Auch oft zu hören ist die liberale Haltung: keine unnötigen Gesetze. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob die kulinarische Wahlfreiheit Sache das Staates ist. Wie siehst du das?
Es gibt bereits viele Gesetzte, die darauf Einfluss haben, was auf unseren Tellern landet. Etwa die Gesetze, die die Milliarden von Franken an Agrarsubventionen regeln und die Auszahlung von Millionen von Steuergeldern an die Branchenorganisationen Swissmilk, Proviande und GalloSuisse ermöglichen. In diesem Kontext ist es ein schräger Einwand, dass der Staat da nicht eingreifen solle. Tatsächlich greift er schon sehr stark ein, und zwar zugunsten der Tierprodukte.

Auch wenn die Ernährung bereits heute durch Subventionen gesteuert wird, ist das kein Freibrief für staatliche Regulierungen.
Wir wollen ja keinen Freibrief. Wir machen einen ganz konkreten, eng begrenzten Vorschlag zur Förderung der pflanzlichen Ernährung. Die staatliche Subventionierung der Tierprodukte nehmen wir dabei ganz pragmatisch als gegeben hin. Einige finden vielleicht, wir hätten stattdessen den totalen Systemwechsel in der Agrarpolitik fordern sollen: weg mit den Subventionen, her mit dem freien Markt! So eine pauschale Forderung bringt uns aber nicht weiter.

Neoliberale sehen das anders.
Das mag sein. Vielleicht gibt es tatsächlich Neoliberale, die den Agrarsektor völlig deregulieren möchten. Sie vergessen dabei, dass die Landwirtschaft viele Leistungen erbringt, die nicht korrekt über den Markt abgegolten werden, z.B. Ökoleistungen. Aber das ist eine ganz andere Diskussion. Ich sehe nicht, warum man bei unserem Vorschlag über diese Grundsatzfragen diskutieren muss. Man kann das natürlich. Aber dann bitte genügend Zeit einplanen! (lacht)

Trotzdem: Wieso sollen Speisekarten per Gesetz geregelt werden?
Weil wir als Gesellschaft weniger Tierprodukte essen müssen, wenn uns unsere Zukunft und das Wohlergehen der Tiere etwas wert sind. Aber schau: Wir von Sentience sind ja nicht der Staat, wir können das nicht entscheiden. Wir haben einfach Ideen, wie man einige drängende Probleme angehen könnte. Wir bringen diese Ideen in die politische Diskussion ein. Wenn sich aus dieser Diskussion ohne gesetzliche Massnahmen eine stabile Trendwende ergibt und alle Leute nach und nach vegan werden, dann ziehen wir unsere Vorschläge zurück. Unser Ziel ist ja nicht irgendein Gesetz, sondern eine gesellschaftliche Veränderung.

Ihr macht das argumentativ geschickt, indem ihr euch auf die KonsumentInnen konzentriert und deren Wahlfreiheit betont. Dennoch ist die Initiative eine Bevormundung, und zwar für Teile der Gastronomie. Sebastian Leugger, du bist selbst Gastronom. Mit dem Projekt Habakuk betreibst du veganes Catering und Ad Hoc Restaurants. Ist es für dich als Gastronom nicht verständlich, wenn sich die Gastronomie gegen staatliche Bevormundung wehrt?
Wenn unsere Vorschläge auf eine Regulierung der Gastrobranche abzielen würden, gäbe es sicher Widerstand. Tatsächlich weiss ich – abgesehen vom Vegi-Gastronom Rolf Hiltl – von keiner Wirtin und von keinem Wirteverband, die oder der sich öffentlich gegen unsere Vorschläge ausgesprochen hätte. Warum sollten sie auch? Sie sind davon ja gar nicht betroffen. Es geht nur um die öffentlichen Kantinen. Das sind von der öffentlichen Hand finanzierte Verwaltungsträger. Falls der Souverän entscheidet, dass er in seinen Verwaltungsträgern vegane Menüs angeboten haben will, haben diese Verwaltungsträger das auszuführen. Die private Gastronomie kann dann immer noch machen, was sie will.

Doch auch die öffentlichen Kantinen unterliegen dem Markt. Ihr wollt nun in den Markt eingreifen, indem ihr das Angebot erweitert. Bist du zuversichtlich, dass die Nachfrage für vegane Alternativen gross genug ist?
Private Anbieter wie zum Beispiel das Tibits zeigen, dass es möglich ist, mit veganer Küche Geld zu verdienen. Wie? Indem man Gerichte anbietet, die bei der Kundschaft ankommen. Was sicher nicht funktioniert, ist, wenn man vom bisherigen Menü einfach alle tierischen Produkte streicht. Wir wollen den öffentlichen Kantinen deshalb geeignete Anreize setzen.

Veganes tif topf Rezept: Pastetli mit Rösti, Erbsen und Karotten. © tier-im-fokus.ch (tif)

Anreize?
Ja. Wenn die Kantinen der öffentlichen Hand ein veganes Menü anbieten müssen, haben die BetreiberInnen dieser Kantinen – egal ob es Staatsangestellte oder private AuftragnehmerInnen sind – einen Anreiz, dieses Menü für ihre Gäste attraktiv zu machen. Denn kaufen muss es niemand, und etwas zu produzieren, das nicht gekauft wird, kann sich kein Betrieb leisten. Deshalb werden die betroffenen Kantinen vegane Menüs anbieten, die Absatz finden.

Durch die Erweiterung des Angebots könnte also auch die vegane Nachfrage steigen. Nach wie vor bilden VeganerInnen jedoch eine krasse Minderheit in der Schweizer Bevölkerung. Ist das Anliegen von Sentience demokratiepolitisch legitim?
Erstens sind es überhaupt nicht die VeganerInnen, die den Entscheid fällen, sondern es sind die StimmbürgerInnen oder das Parlament. Zweitens ist vegan gut für das Klima, für die Tiere, für die Nord-Süd-Gerechtigkeit usw. Wenn es lecker ist, nehmen darum auch viele Nicht-VeganerInnen ab und zu ein veganes Menü, falls es denn angeboten wird. Und drittens funktioniert eine Erweiterung der Speisekarte, wie sie Sentience vorschwebt, sowieso nur, wenn eine Mehrheit der Gesellschaft mitmacht. Die Frage nach der demokratiepolitischen Legitimität erledigt sich somit.

Was ist mit den geschmacklichen Vorurteilen gegenüber der veganen Ernährung?
Da bin ich zuversichtlich. Als Veganer weiss ich, dass es problemlos möglich ist, ohne Tierprodukte Gaumenfreuden zu erleben. Ich kann aber die Ablehnung z.T. verstehen, weil viele die vegane Küche noch nicht kennen. „Dann kann ich ja nur noch Salat nehmen“, ist ein häufiges Vorurteil. In vielen Kantinen ist Salat im Moment ja wirklich das einzige, was man vegan essen kann. Nichts gegen Salat, aber niemand will die ganze Zeit nur Salat essen. Das ist natürlich auch nicht die Idee. Vegane Küche ist viel mehr als nur Salat.

Nehmen wir also an, dass in den öffentlichen Kantinen künftig stets eine vegane Option angeboten wird. Reicht ein zusätzliches Menü auf der Speisekarte, um eure Ziele – Umweltschutz, Tierschutz, Versorgungssicherheit – zu erreichen oder beflügelt das erweiterte Angebot bloss den Konsumismus?
Ich finde das Wort „Konsumismus“ im Zusammenhang mit Essen unangebracht. Ich bin zwar ein Freund der Konsumkritik, aber beim Essen gilt: Ohne Konsum geht es nicht. Klar, wenn man rund ist wie ein Ball, hat man vielleicht zu viel Essen konsumiert. Aber solange man seine Fussspitzen noch sieht, würde ich mich beim Essen mit Konsumkritik zurückhalten.

Die Frage ist doch, ob zusätzliche Konsumangebote die Verhältnisse ändern können. Nehmen wir als Beispiel den Vegetarismus. Einerseits erweitert er seit Jahrzehnten die kulinarische Wahlfreiheit, so dass heute in jeder Dorfbeiz problemlos vegetarisch gegessen werden kann. Wer sich jedoch die Schlachtzahlen anschaut, muss andererseits ernüchternd feststellen: Die sind seit Jahren auf konstant hohem Niveau und stiegen 2013 sogar noch leicht an. Besteht also nicht die Gefahr, dass euer Anliegen selbst im Erfolgsfall wenig bewirkt und namentlich die Schlachtzahlen von sogenannten Nutztieren unbeeinflusst lässt?
Die Schlachtzahlen sind nicht der einzige Indikator für Veränderung. Die Verrenkungen, zu denen sich die Tierproduktelobby in ihren Werbekampagnen mittlerweile hinreissen lässt, um den Tierproduktekonsum noch halbwegs akzeptabel erscheinen zu lassen, zeugen davon, dass sich die Einstellungen der Menschen geändert haben. Viele akzeptieren den Tierproduktekonsum nur noch, weil er ihnen mit Lügen und Halbwahrheiten schmackhaft gemacht wird. In diesem Kontext sind auch die verzweifelten und rechtsstaatlich höchst bedenklichen Versuche der Tierproduktelobby zu sehen, Undercover-Recherchen, Informationskampagnen und Proteste von TierschützerInnen zu kriminalisieren, so wie jüngst in Österreich.

Aber es stimmt sicher: Wenn Veganismus eine Nische bleibt und die meisten Leute auch in Zukunft nur sehr selten vegan essen, dann wird sich an den Schlachtzahlen wahrscheinlich nichts ändern.

Wie wollt ihr vegan aus dem Nischendasein holen?
Ich stelle es mir so vor: Zunächst werden viele Leute mit dem veganen Essen vertraut und machen damit positive Erfahrungen. Sie merken: „Ah, das ist etwas Leckeres“ und „Es geht auch gut ohne Tierprodukte“. Wer das merkt, steht der pflanzlichen Ernährung als politische Alternative dann viel offener gegenüber und trägt auch eher Massnahmen mit, die letztlich die Schlachtzahlen und die Tierbestände wirklich reduzieren. Die meisten Menschen sind gegen Gewalt, Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Gemeinsam mit diesen Menschen holen wir vegan aus dem Nischendasein.

leugger_sebastian

Sebastian Leugger ist Mit-Initiant von Sentience Politics. Er hat an der Universität Bern über Bewusstseinsforschung promoviert, ist Amateur-Gastronom und engagiert sich für die Förderung der veganen Landwirtschaft.

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1 Kommentar

Marc Bonanomi
vor 10 Jahre

ja, das wollen wir! Wir holen vegan aus dem Nischendasein. Wir kämpfen dafür, an verschiedenen Fronten, politisch, auf der Strasse, über die Medien, und…..vielleicht geht es einmal ganz ganz schnell vorwärts. Exponetielle Kurven sind auch lange ganz bescheiden, bis auf einmal….
Danke, Sebastian, brillant Argumente, brillant formuliert.

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