Hühner auf Diät
Gestörtes Gehirn, gestörtes Verhalten: Die einen fressen bis zum Umfallen, die anderen werden auf Zwangsdiät gesetzt. Die Rede ist von "Masthähnchen" und ihren Eltern, den Zuchttieren. Klaus Petrus (tif) über die Folgen einer auf Höchstleistung ausgerichteten Selektion.
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Gestörtes Gehirn, geschwellte Brust
Die einen fressen bis zum Umfallen, die anderen werden auf Zwangsdiät gesetzt. Die Rede ist von „Broilern“ oder „Masthähnchen“ – die im Übrigen ebenso Masthennen sind – und ihren Eltern, den Zuchttieren.
Seit längerem ist erwiesen, dass durch die jahrzehntelange Selektion auf hohe Fleischausbeute das Sättigungzentrum im Gehirn (Hypothalamus) dieser Tiere gestört wurde. Was konkret bedeutet: Sie essen auch dann weiter, wenn sie längst satt sind, ihr Nährstoffbedarf also gedeckt ist.
Bei den Küken ist das durchaus erwünscht. Sie wiegen bei der Geburt um die 40 Gramm und müssen es in weniger als 40 Tagen auf 1.8 bis 2.0 Kilogramm bringen. Dann sind sie „schlachtreif“.
Die Tiere stammen, anders als die „Bibeli“ der Legehennen, aus einer gesonderten Fleischlinie. Das Genmaterial wird weltweit gerade einmal von vier Grosskonzernen gehortet. Gefragt sind Höchstleistungen, denn man will immer schneller immer mehr: vom Schenkel und vor allem von der Hühnerbrust.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Anteil des Brustmuskels von 9 auf 18 Prozent des Körpergewichts gesteigert. Es könnte noch besser sein, meint die Zuchtindustrie, 22 bis 24 Prozent haben sie längst im Visier.
Übergewicht unerwünscht
Ganz anders bei den Eltern. Da man sie als Zuchttiere länger braucht, müssen sie vor Übergewicht geschützt werden. Denn je schwerer sie werden, umso höher sind die „Verluste“. In Experimenten, wo weiblichen Zuchttieren bis zur 72. Woche Futter frei zur Verfügung stand (ad-libitum-Fütterung), wurde eine Sterblichkeitsrate von 70 Prozent ermittelt. Und die übrigen Tiere waren nicht mehr fortpflanzungsfähig.
Das ist eine bedrohliche Bilanz für Zuchtbetriebe, die am Laufmeter Nachschub liefern wollen. Also werden die Elterntiere „restriktiv gefüttert“, wie es in der Branche heisst. Sie erhalten 60 bis 80 Prozent weniger Nahrung und leiden so unter einem permanenten Hungergefühl. Und werden aggressiv.
Die „Folgekosten“, allesamt Verhaltensstörungen, werden fest einberechnet: Federpicken oder gar Kannibalismus, stereotypes Picken und eine erhöhte Wasseraufnahme („Übertrinken“) sind weit verbreitet.
Auf wackligen Beinen
Aber all das scheint nichts im Vergleich mit den „korrelierten unerwünschten Selektionsfolgen“, also den Schmerzen und Schäden, die mit der Züchtung auf möglichst rasches Muskelwachstum zwingend einhergehen – und an denen bereits die kleinen Masthühner zu leiden haben.
Augenfällig sind Skelettdeformationen. Zu den schwerwiegenden und auch häufigsten Erkrankungen gehören Periosis und die tibiale Dyschondroplasie (TD). Erstere kommt bei etwa einem Drittel der Tiere vor und äussert sich in einer Verdrehung der Beine, letztere ist eine abnorme Knorpelwucherung, bei der im Endstadium der Oberschenkelkopf durch die Knorpel auseinander gedrückt wird.
Hinzu kommen Knochenmarkentzündungen (Osteomyelitiden), Wirbelverkrümmungen (Spondylolisthesis) und Fussballenentzündungen (Pododermatitis), die zwar häufig einem schlechten Stallmanagement angelastet werden, indirekt aber ebenfalls das Resultat der Hochleistungszucht sind: Dass bei einer hohen Besatzdichte – Betriebe mit 50.000 bis 100.000 Masthühnern sind normal – die Tiere mit ihren Füssen buchstäblich an der feuchten Einstreu kleben bleiben, hat auch damit zu tun, dass sie sich infolge ihres hohen Gewichts nicht mehr aufrichten können und auf den Sprunggelenken sitzen müssen.
Viel Stress, ein zu schwaches Herz
Aber nicht bloss das Skelett kann bei diesem widernatürlichen Muskelwachstum nicht Schritt halten, die Entwicklung der inneren Organe hinkt ebenfalls nach. Zu den häufigsten Todesursachen in der Hühnermast zählt der plötzliche Herztod, ein schockartiges Syndrom, das auf eine erhöhte Stressanfälligkeit zurückgeführt wird und vor allem beim Verladen der Hühner zu drastischen „Abgängen“ führen kann.
Studien haben ergeben, dass nahezu die Hälfte der Transporttodesfälle durch plötzlichen Herztod verursacht ist, oft in Verbindung mit Aszites. Dabei handelt es sich um eine Ansammlung von Gewebeflüssigkeit in der Bauchhöhle, die durch einen stressbedingten Überdruck in der Lunge entsteht. Wie andere innere Organe, wächst auch die Lunge bei Tieren, die auf hohen Fleischansatz gezüchtet werden, erheblich langsamer als der Gesamtorganismus.
Um Stress zu vermindern, werden die Masthühner reizarm gehalten: die Beleuchtung in den Hallen ist gedämpft, oft kommt kein natürliches Tageslicht hinzu.
Ob kurz oder lang: ein schweres Leid
All diese Probleme treten gehäuft auf, und das, obschon die „Nutzungsdauer“ der Masthühner laufend verkürzt wird. Heute leben sie noch gut einen Monat. Man will sie zu Brust, Keule oder Chicken Wings verarbeiten, bevor sie tödlich erkranken.
Dagegen werden die Eltern möglichst lange durchgehungert. Dass auch sie am Ende unter der Last ihres Körpergewichts einknicken, ist unausweichlich. Und wird von den Zuchtbetrieben unter „erhöhtes Ruheverhalten“ verbucht.
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