4 Gründe, warum Herdenschutz funktioniert
Der Wolf polarisiert – und wird oft zur Zielscheibe. Doch Abschüsse lösen keine Probleme. Wir zeigen vier Gründe, weshalb konsequenter Herdenschutz die bessere und nachhaltigere Lösung ist.
Als der letzte Schweizer Wolf 1871 im Tessiner Dorf Iragna erschossen wurde, herrschte Erleichterung. Jahrhundertelang galt der Wolf als dämonisches Wesen, umrankt von Mythen, Ängsten und Schauermärchen. Diese tief verwurzelte Furcht wirkt bis heute nach.
Auch nach über 150 Jahren wird die Rückkehr des Wolfs reflexartig abgelehnt. Forderungen nach Abschüssen werden meist mit dem Schutz von Nutztieren begründet – doch Abschüsse bieten keine echte Lösung. Effektiv und nachhaltig ist allein konsequenter Herdenschutz.
Hier sind vier Gründe, warum der Wolf – mit gutem Herdenschutz – einen Platz in der Schweiz verdient:
1. Herdenschutz wirkt – und verhindert leichte Beute
Die Praxis zeigt deutlich: Wo Herdenschutz konsequent umgesetzt wird, sinken die Verluste durch Wölfe massiv. Ein Beispiel aus Graubünden: Auf einer Alp in der Surselva-Region verzichtete man zunächst auf Nachtpferche. Nach mehreren Verlusten installierte man Elektrozäune und schützte die Schafe nachts. Seither gab es keine Verluste mehr. Ein weiteres erfolgreiches Beispiel findet sich im Walliser Turtmanntal, wo dank Herdenschutzhunden und einer Hirtin seit 2018 kein einziges Nutztier mehr gerissen wurde.
Schweizweit bestätigt sich dieser Erfolg: Obwohl heute deutlich mehr Wölfe in der Schweiz leben als vor 20 Jahren, reissen sie pro Wolf deutlich weniger Nutztiere. Waren es um die Jahrtausendwende noch rund 33 Tiere pro Wolf und Jahr, sind es heute dank verbesserter Schutzmassnahmen nur noch etwa sechs.
Umgekehrt zeigt sich: Wo Schutz vernachlässigt wird, häufen sich die Probleme. Im Wallis waren 2023 rund 80 Prozent der gerissenen Nutztiere ungeschützt. Für den Wolf reichen bereits kleine Sicherheitslücken – ein offenes Tor, ein kaputter Zaun oder eine unbeaufsichtigte Herde. Wölfe sind Opportunist:innen. «Sie reissen Beute, sobald sich eine günstige Gelegenheit bietet», sagt Wolfsexperte Sven Buchmann gegenüber SRF.
Kurz gesagt: Herdenschutz wirkt – aber nur, wenn er ernst genommen wird.
2. Abschüsse lösen das Problem nicht, sie verschärfen es
Politisch werden schnelle Abschüsse von «Problemwölfen» gefordert. Doch dies ist keine dauerhafte Lösung. Wildbiologe Heinrich Haller betont gegenüber SRF, dass abgeschossene Wölfe rasch durch neue Tiere ersetzt werden, weil regelmässig Jungwölfe aus Nachbarländern einwandern. Ein leer geschossenes Revier bleibt nie lange unbesetzt – gleichzeitig werden durch Abschüsse wichtige soziale Strukturen in Wolfsrudeln zerstört, was sogar noch mehr Konflikte verursachen kann.
Besonders gravierend ist es, wenn versehentlich Leittiere abgeschossen werden. Der Abschuss eines Leittiers ist keine Bagatelle, sondern ein ernsthafter Eingriff, der das Rudel auseinanderbrechen lassen kann, warnt David Gerke von der Gruppe Wolf Schweiz. Fehlen die erfahrenen Rudelmitglieder, verlieren junge Wölfe ihre Orientierung, wandern ziellos umher und greifen häufiger Nutztiere an.
Ein Experte in einer sehenswerten SRF-Dokumentation erklärt, dass ein Wolfsrudel typischerweise aus einem Elternpaar, älteren Jungtieren und neuen Welpen besteht. Diese Familie verteidigt ihr Territorium strikt. Werden jedoch die Elterntiere getötet, entfällt diese natürliche Kontrolle: Wird das Territorium nicht mehr verteidigt, hat man unter Umständen sogar mehr Wölfe als zuvor.
Wolfsexperte Sven Buchmann (KORA) bestätigt im obigen SRF-Artikel: Abschüsse lösen Konflikte nicht dauerhaft, Herdenschutz hingegen schon. Während gezielte Abschüsse manchmal als Ausnahme akzeptiert werden, ist klar: Präventive Schutzmassnahmen sind langfristig deutlich effektiver.
3. Wölfe halten Wildtierpopulationen gesund
Wölfe erfüllen eine wichtige Aufgabe in der Natur. Laut dem WWF jagen sie bevorzugt schwache, kranke oder junge Hirsche, Rehe und Gämsen. Dadurch stärken sie den Bestand ihrer Beutetiere und sorgen indirekt dafür, dass der Wald weniger unter Wildverbiss leidet und sich besser regenerieren kann.
Die Biologin Andrea Kupferschmid von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL bestätigt: «Die Präsenz von Wölfen verringert […] die Wildschäden und sorgt für ein besseres Wachstum der Bäume.» Förster:innen begrüssen daher die Rückkehr der Wölfe, denn gerade Baumarten wie Weisstannen und Eichen profitieren von weniger Verbiss, die im Klimawandel eine entscheidende Rolle spielen.
Klar ist aber: Der Wolf allein wird das Problem hoher Wildbestände nicht lösen. Doch mit wachsender Wolfspopulation könnte der Druck auf Wildtiere steigen – und langfristig weniger jagdliche Eingriffe nötig sein. Der Wolf könnte somit zu einem natürlicheren Umgang mit Wald und Wildtieren beitragen.
4. Herdenschutz braucht Solidarität
Herdenschutz bedeutet Mehraufwand: Elektrozäune müssen gepflegt, Herdenschutzhunde ausgebildet und Herden überwacht werden. Doch dieser Aufwand lohnt sich, schützt langfristig Tiere und Menschen und sollte solidarisch getragen werden.
Solange das Umweltdepartement von Mitte-Links geführt wurde, erhöhte der Bund die Mittel für den Herdenschutz regelmässig. Mit der Wahl von Albert Rösti (SVP) in den Bundesrat Ende 2022 und seiner Übernahme des Umweltdepartements änderte sich die Strategie jedoch grundlegend: Statt weiterer Aufstockungen kürzte Rösti die Beiträge für den Herdenschutz um rund 50 Prozent.
Schlimmer noch: Rösti gab 2023 grünes Licht für präventive Wolfsabschüsse – und missachtete damit den Willen des Stimmvolkes, das sich noch 2020 gegen das revidierte Jagdgesetz aussprach. Umweltverbände wie Pro Natura betonen hingegen, wie wichtig solidarische Herdenschutz-Projekte (z.B. «Pasturs Voluntaris») sind.
Herdenschutz funktioniert nur, wenn alle mitmachen und die Politik die richtigen Signale sendet: Wer in Schutzmassnahmen investiert, verdient Unterstützung. Wer stattdessen auf Abschüsse setzt, gefährdet langfristig Nutztiere, Nachbarherden und die Zukunft der Wölfe.
Mehr Wildnis wagen
Der Wolf fordert uns heraus, unser Verhältnis zur Natur neu zu denken. Gerade in Zeiten der Klimakrise und des Artensterbens brauchen wir nachhaltige Lösungen, nicht kurzfristige Eingriffe. Genau dies meint das Konzept des «Rewildings»: Der Natur Raum geben, Selbstregulierung fördern und alte Denkmuster hinterfragen.
Wenn wir auch unbequemen Arten ihren Platz zugestehen, stärken wir langfristig die Widerstandsfähigkeit unserer Landschaften gegen Umweltkrisen. Herdenschutz ist dabei mehr als nur Schadensprävention: Er steht für ein verantwortungsvolles Zusammenleben auf Augenhöhe mit wilden Tieren.
So könnte gerade der einst gefürchtete Wolf zum Symbol eines achtsamen, respektvollen Umgangs mit unserer Umwelt werden.
Links
- Eine Tierrechtsposition zur Jagd – gratis Broschüre zum Runterladen oder Bestellen von Tier im Fokus (TIF)
- Guter Böser Wolf – Vierteilige Hintergrundsendung von SRF zum Wolf.
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