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Haustiere im Porträt

Jimmy oder der letzte Rest von Freiheit

Sie hat schon viel gelitten wegen diesem Hund. Und doch verbringt sie ihre Zeit am liebsten mit ihm. Und ist schwer verliebt in Jimmy, den Streuner. Von Charlotte Walser.

Text: Tier im Fokus (TIF)

Was habe ich schon gelitten wegen dieses Hundes. November, er irgendwo dort draussen im Dunkeln, ich seit Stunden an derselben Stelle, im Kopf das Karussell. Er könnte in einem Fuchsbau feststecken, überfahren worden sein, sich in einem Zaun verheddert haben… Hätte ich ihn bloss an die Leine genommen. Vielleicht sehe ich ihn nie wieder. Warum habe ich nicht besser aufgepasst? Und: Warum tue ich mir das an?! Früher hielt ich Hunde für unterwürfig und Hundehalter für Menschen, die gerne Macht ausüben. Das mit Jimmy hat sich so ergeben. Er ist der Hund eines Freundes. Ich habe einige Male auf ihn aufgepasst – und mich verliebt. Seither verbringen wir fast jedes Wochenende zusammen, meist auch die Ferien. Für gewöhnlich erkläre ich das mit dem Bedürfnis nach frischer Luft und Bewegung. Die Wahrheit ist: Ich verbringe meine Zeit am liebsten mit Jimmy. Inzwischen ist Jimmy etwa 13 Jahre alt und haut nicht mehr so oft ab. Aber es kommt noch vor. Manchmal hält er, schon auf dem Weg, kurz inne und blickt zurück, als wollte er sagen: «Tut mir leid, ich kann nicht anders.» Dann rennt er wie der Blitz. Eigentlich hört er auf Menschen, vertraut ihnen. Doch im Zweifelsfall entscheidet Jimmy selbst. Vielleicht hat es mit seiner Vergangenheit als Strassenhund zu tun, vielleicht braucht er einfach diesen letzten Rest von Freiheit. Müsste man sich nicht sorgen, man gönnte ihm den.

Als pfiffe er ein Liedchen

Um andere muss man sich immerhin nicht sorgen: Jimmy tut niemandem etwas. (Die Sache mit dem Meerschweinchen war ein Unfall.) Vor ihm fürchtet sich auch niemand. Vielen entlockt er ein Lächeln, sogar Joggern und Polizisten. Das hängt mit seinem Äusseren zusammen, seinem offenen, freundlichen und gewinnenden Wesen – und damit, wie er seines Weges geht: selbstbewusst und gut gelaunt, als pfiffe er ein Liedchen. Nicht, dass ich geglaubt hätte, Tiere hätten keine Eigenheiten, Vorlieben und Wünsche. Aber was Jimmy so alles möchte – eines Tages an der Weggabelung links statt wie üblich rechts zum Beispiel – und wie er das deutlich machen kann, überrascht mich immer wieder. Und wie er sich freut, wenn einem Wunsch entsprochen wird… Ich lasse Jimmy gerne hin und wieder den Weg wählen, wenigstens das. Solches mildert das Unbehagen darüber, wie sehr er mir ausgeliefert ist. Wer nun den Kopf schüttelt, hat wahrscheinlich recht: Ich bin eher ungeeignet für die Mensch-Hund-Beziehung.

Besessen von Fischen

Neben langen Spaziergängen und gelegentlichen Abenteuern auf eigene Faust gehört das Fischen zu Jimmys Lieblingsbeschäftigungen. Im Sommer könnte er stundenlang durchs Wasser waten, wie in Trance. Er ist geradezu besessen von Fischen (die dadurch nicht zu Schaden kommen). Was Jimmy sonst noch mag: Löcher graben (auch das mit Leidenschaft), Füchse und Biber aufspüren, in der Sonne liegen, samstags nach dem Markt die Münstergasse in der Berner Altstadt abschnüffeln, wie von der Biene gestochen durch die Wohnung sausen, unerlaubterweise mein Bett zerwühlen und dann nicht sicher sein, ob ich böse bin oder bloss so tue, auf der Abendrunde in diese eine Bar einkehren (mir ist ein Rätsel, weshalb), auf das mit Stacheldraht eingezäunte Gelände von Botschaften eindringen (vor allem die russische und die chinesische), mit Junghündinnen flirten, die viel grösser und stärker sind als er, sich mit einer Decke ein Nest bauen und darin schnarchen. Was Jimmy nicht mag: Donner (da möchte er beschützt werden), Regen (bei starkem sucht er sich einen Unterschlupf und bleibt dort), Saja (die ihn einmal gebissen hat und die er auf einen Kilometer riecht), wenn ihm der Wind die Ohren wegbläst, wenn Menschen ihn vom Boden hochheben. Und ich – ich mag alles an Jimmy, inklusive den Geruch seiner Pfoten (eine Popcorn-Note mit einem Hauch von Haselnuss). An jenem Novemberabend übrigens kam er nach viereinhalb Stunden zurück, ohne Halsband und mit diesem Blick, der zu sagen schien: «Ich weiss… Ist blöd gelaufen. Frag nicht. Jetzt bin ich ja da. Gehen wir nach Hause?» Charlotte Walser studierte in Bern Philosophie und arbeitet als Bundeshausredaktorin, SDA.
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